Schlich ein Puma in den Tag
Schlich ein Puma in den Tag Verena Pavoni (Ill.) Lena Raubaum Text: Kirsten Winderlich Fotos: Sophia Ashraf und Lucia Leonhardt Ein paar hellbraune Striche auf weißem Grund lassen auf der ersten Seite rätseln. Weitere geben Form und Farbe auf der nächsten Seite. Dann erscheint ein raubtierartiger Kopf. Ein Löwe vielleicht … der uns Betrachtenden mit strahlend-stechenden Augen direkt anblickt. Im Folgenden tritt uns dieser wie durch eine milchig-glasige Scheibe gegenüber. Und dann: Eine stückweise schwarze Verwandlung. Immer noch sticht ein Auge hervor. Kein Löwe, sondern: »Schlich ein Puma in den Tag / regte sich / bewegte sich«, heißt es im poetischen Text von Lena Raubaum. Das schwarze Quadrat verdeckt den Puma fast vollständig. Aber nur beinahe, denn die Konturen von Kopf, Ohren, Augen, Schnauze, Nase und Maul sind noch erkennbar. Wie kann das sein? Ein Geheimtipp auf den letzten Seiten, über die wir angeregt werden, eigene Bilder dieser Art, der Wachskreide-Sgraffito, herzustellen, verrät es. Denn dort erzählt die Malerin Verena Pavoni folgendes: »Wenn du den Formen nachzeichnest, sind diese noch sichtbar, auch wenn das Bild ganz schwarz geworden ist.« Auf den nächsten Seiten legt die Künstlerin Gesicht und Kopf des »Puma concolor« Schritt für Schritt frei. »Schlich ein Puma in […] Read More › Nie wieder Frühling
Nie wieder Frühling Sarah Knausenberger & Kerstin Marie Backes (Ill.) Text: Kirsten Winderlich Fotos: Sophia Ashraf und Lucia Leonhardt Ein Junge und seine Großmutter, eine tote Welt und eine stumme Familie. Wie tragisch, dass die Großmutter, die Ben als Einzige in einer sich zunehmend verrohenden Gesellschaft Halt gibt, sterben wird. »Nie wieder Frühling« ist eine dystopische Geschichte, die Sarah Knausenberger meisterhaft aus der Perspektive von Ben erzählt und Kerstin Marie Backes mit kolorierten Zeichnungen wie Collagekunst kongenial ins Bild setzt. Ihre Bilder spielen dabei mit Perspektivwechseln und Kontrasten zwischen Innen und Außen, der lebendigen Welt der Großmutter, in der Pflanzen gedeihen und der stumpfen wie farblosen Außenwelt, für die es keine Jahreszeiten mehr gibt. Was passiert mit alten Menschen in einer Welt, in der alle erstarren, sich ausschließlich um ihr unglückliches Selbst drehen, in der es keine Empathie und Zuversicht mehr gibt? Nachdem die Großmutter einen Platz im Pflegeheim verweigert, dessen Name »Shady Acres« für sich spricht, stehen kurz vor ihrem Ableben Mitarbeitende eines Kryokonservierungsinstitut vor der Tür. Nicht nur respektlos, sondern energisch und entschlossen, treten sie den Wunsch der Großmutter, wie das Bild des überdimensionierten Schrittes eines Mannes in graublauem Anzug und Hut aus der Froschperspektive symbolisiert, »mit den […] Read More › Das Wunder der Flunder
Das Wunder der Flunder Daniela Leidig Text: Kirsten Winderlich Fotos: Sophia Ashraf und Lucia Leonhardt Als sie sich zu Beginn der ersten Klasse in der Schule selbst porträtieren, muss sich ein Kind von seiner Lehrerin folgendes anhören: »›Moritz, hast du deine Arme vergessen? Willst du dir keine Arme malen?‹« Als alle Kinder in der Pause raus zum Fußballtor rennen, beugt sich die Lehrerin über ihn und fragt: »›Warum spielst du denn nicht mit Fußball?‹« Als der Junge eine Unterrichtsstunde Kunst bei Frau Neu hat, ist die Aufgabe auszumalen. Er übermalt die Konturen der Blumen. Seine Arbeit entspricht nicht den Erwartungen der Kunstlehrerin. Warum versteht sie Moritz’s Bild nicht? Macht er doch seine Arme in seinem Selbstporträt nicht sichtbar, weil sie sich in seiner Vorstellung hinter dem Rücken befinden und er dabei einen schönen Stein festhält. Spielt er doch keinen Fußball, weil er lieber auf Bäume klettert. Und dann hält er beim Ausmalen die schwarzen Linien als Begrenzung nicht ein, weil er sich in seinem Bild dem Streben der Blumen zum Licht widmet. Weshalb werden Kinder in ihrem So-Sein und in ihren Zugängen zur Welt in der Schule so wenig ernst genommen, könnte die grundlegende Frage des Bilderbuches »Das Wunder der […] Read More › Ihre Hoheit Matsch
Ihre Hoheit Matsch Prinzessin von Schlammland Beatrice Alemagna Text: Kirsten Winderlich Repros: Sophia Ashraf und Lucia Leonhardt »Ich habe einen schlechten Charakter. […] Ich bin fies und ungezogen. […] Alles in mir verknotet sich.« Selbsterfüllende Prophezeiungen wirken auch schon im Kindesalter und machen einsam. Vielleicht gerade dann, wenn einem wenig Aufmerksamkeit und Wohlwollen entgegengebracht werden. In dem einfühlsamen Bilderbuch von Beatrice Alemagna trifft dieses tiefgreifende Erleben auf unheimliche Orte, wie »Schlammland«, »Ärgerwald«, »Verbergsee«, »Museum der Zornobjekte« oder »Wutothek«. Und paradoxer Weise hilft diese unterirdische Welt unter ihrer »Hoheit Matsch« der Protagonistin Yuki die unliebsam überbordenden Gefühle anzuerkennen. Doch bevor der Umgang mit den verstörenden Emotionen gelingt, muss Yuki in die Untiefen ihres Erlebens abtauchen. Wieder einmal ihrem Bruder ausgesetzt, der sie nur widerwillig von der Schule abholt, sich in seiner Kapuze verschanzt und von ihr abwendet, wirft sie resigniert den Haustürschlüssel in einen Gully. Eine Tat, die der eigenen Wut trotzt und gleichzeitig die Täterin zum Verschwinden bringt. Denn: Welche Geste, den eigenen Alltag hinter sich zu lassen, ist treffender, als die, den Haustürschlüssel wegzuwerfen? Voller Verzweiflung steigt Yuki nun hinab und durchlebt buchstäblich die Kanalisation ihrer Gefühle. Diese erfahren nicht nur in der Visualisierung einer breiten Palette von Mimik […] Read More › Jacominus Gainsboroughs Welt
Jacominus Gainsboroughs Welt Zu den virtuosen Bilderbüchern von Rébecca Dautremer Text: Kirsten Winderlich Fotos: Elisa Bauer Video »Punkt 12«: Elisa Bauer / Sprecherin: Helen Naujoks Sei es das ganze Leben oder ein winziger Augenblick, sei es eine Verabredung zu zweit oder eine wunderbare Sache, immer geht es in den Bilderbüchern zu Jacominus Gainsborough von Rébecca Dautremer um das Fragile und Flüchtige des Lebens, um Momente der Begegnung und Beziehung, die sie Seite für Seite durch ihre Bilder und poetischen Erzählungen feiert. Im Grunde ist es das Thema der Zeit, das alle Bücher verbindet. Dautremer durchdringt dieses in ihren mannigfaltigen Facetten durch Bild und Text, aber auch durch die hochkomplexen wie kunstvollen Formate der Bücher. So halten wir mit einer »winzig kleinen Sekunde« (2022) ein Leporello in den Händen, das uns nach Aufklappen von sieben Seitenflügeln mit einem über zwei Meter breiten Gemälde beschenkt und dessen Entstehungsprozess im zeichnerischen Stadium wir auf der Rückseite betrachten dürfen. 100 Protagonisten tümmeln sich in dem gigantischen farbenprächtigen Panorama. Ein paar dieser bemerkenswerten Mischwesen sind uns bereits aus dem »Stundenbuch des Jacominus Gainsborough« (2016) bekannt. Ein Begleitheft lässt uns einen liebevollen Blick auf jede einzelne Figur werfen und uns an ihren Geschichten teilhaben. So lernen […] Read More › Eine Stadt
Eine Stadt Begegnungen Linda Wolfsgruber Text: Kirsten Winderlich Repros: Elisa Bauer »Stadt ist, wo Menschen sind« sagte einmal Jochen Gerz und betont mit dieser Aussage, dass das Gebaute ohne öffentliche Räume, in denen sich Menschen aufhalten und einander begegnen, keine Stadt werden kann. Stadtteile werden gebaut, erweitert und transformiert. Manchmal entstehen sie auch gänzlich neu, so wie die Seestadt im Gemeindebezirk Donaustadt in Wien, die Linda Wolfsgruber eines Tages im Jahr 2019 mit ihrem Begleiter Pipin entdeckt. Bei der Seestadt handelt es sich um das aktuell größte Stadtteilentwicklungsprojekt Europas, bei dem der Anteil der öffentlichen Räume über 50 Prozent ausmachen wird. Nach Fertigstellung, konkret bis in die 2030er Jahre, sollen in der Seestadt mehr als 25.000 Menschen wohnen und mehr als 20.000 Menschen arbeiten. Klar, dass Linda Wolfsgruber bei ihren zahlreichen Erkundungstouren aktuell noch wenige Menschen begegnen. Und die Assoziation Pipins zu Georgio de Chirico (1888-1978), der als Hauptvertreter der metaphysischen Malerei gilt, ist nur allzu verständlich, wenn wir uns de Chiricos menschenleeren und traumähnlichen Stadtansichten vor Augen führen. Um so wichtiger, dass Linda Wolfsgruber die Menschen, die ihr während ihrer flanierend-fotografischen Forschungsarbeit über den Weg laufen, zum Sprechen bringt: Was prägt ihren Alltag? Was bewegt sie? Wovon träumen sie? […] Read More › Moor Myrte und das Zaubergarn
Moor Myrte und das Zaubergarn
Sid Sharp Text: Kirsten Winderlich Repros: Elisa Bauer Sid Sharp erzählt die Geschichte zweier Schwestern, die so arm sind, dass sie zum Frühstück Ratten und zu Mittag Kakerlaken essen. Trotz der widrigen Umstände, denen die beiden Schwestern gleichermaßen ausgesetzt sind, können sie ungleicher nicht sein. Ist Beatrice, die »Seligmachende«, zuversichtlich und zugewandt und hat zudem Freude am Naturforschen und Basteln, tritt Magnolia stets mürrisch, pessimistisch und abweisend auf und empfindet nicht zuletzt Genugtuung daran, Spinnen die Beine auszureißen. Die Spinnen sind es dann auch, die sich in mehrfacher Hinsicht als versteckte Hauptrolle wie ein Faden durch die Geschichte ziehen und sich buchstäblich ins Bild abseilen: als Ressource, Revolutionäre und Retter. Zum einen treffen wir in dem Bilderbuch auf die uns aus dem eigenen Alltag bekannten Gliederfüßer, die in dem kaputten und zugigen Haus der Schwestern verlässlich die Fliegen fangen. Und zum anderen zieht die »Moor Myrte«, ein fabelhaftes Wesen von einem Spinnentier, in ihren Bann. Dass Moor Myrte Beatrice ihre Zauberseide schenkt, ist im Nachhinein nicht nur als Komplott gegen die nörgelnde und eigennützige Magnolia zu deuten, sondern auch als überraschende Verknüpfung von knallharter Realität und märchenhafter Fügung. So helfen die Tierchen die Zauberseide zu […] Read More › Aber ich lebe
Text: Kirsten Winderlich Repros: Elisa Bauer „Aber ich lebe“ ist eine Graphic Novel zum Holocaust, die nach einer kollektiven Forschungsarbeit entstand, in der Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar in einen Austauschprozess mit Holocaust-Überleben- den traten. Das Forschungsprojekt wurde 2019 von Charlotte Schallié ini- tiiert und beteiligte über einen Zeitraum von drei Jahren auch Experten für Holocaust- und Menschenrechtspädagogik, Historiker*innen, Lehrkräfte, Lehramtsstudierende, Bibliothekare und Archivare. Visuelles Erzählen eignet sich „besonders für die Geschichten von Über- lebenden, die im Holocaust noch Kinder waren. Denn Bilder prägen sich tief in das Gedächtnis von Kindern ein.“1 So vermittelt das Bilderbuch nicht nur die „Zeugnisse“ der Überlebenden, sondern kann im Sinne des (Auf-) Zeichnens auch Erinnerungen hervorlocken. Konkret wurden drei Künstler*innen, Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar, eingeladen, sich mit vier Kinderüberlebenden des Holocaust zu treffen und gemeinsam mögliche Themen und Handlungsstränge ihrer persönlichen Geschichten aufzuspüren. „Auf der Grundlage dieser kreativen Sitzungen entwickelten sie erste Entwürfe und Storyboards, um die Erinnerungen und Reflexionen von David Schaffer, Nico und Rolf Kamp und Emmie Arbel in visuelle Erzählungen umzusetzen, die die Integrität, Individualität und Würde der Überlebenden und ihre Erfahrungen respektieren.“2 Entstanden sind drei visuelle Erzählungen, in denen nicht nur Vergangenheit und Gegenwart ineinandergreifen, […] Read More › Zug der Fische
Text: Kirsten Winderlich Repros: Elisa Bauer Kaum merkbar schlängelt sich ein Fluss vor der riesigen, schneebedeckten Gebirgskette ins Bild. Blau leuchtende Fische gleiten über die Steine auf seinem Grund. „Der Brusturka fließt durch das ganze karpatische Dorf Brusturiv. Für die Kinder und Kühe ist er das beliebteste Versteck im Sommer. Hier ist ihr Reich. Hier findet sie keiner.“ Was wie eine Idylle anmutet, ist ambivalent. Im Bilderbuch „Zug der Fische“ erzählen Yaroslava Black und Ulrike Jänichen die Geschichte von Kindern in der Ukraine, die den Alltag und ihr Überleben ohne Eltern sichern müssen. So auch Marika. Ihre Mutter arbeitet in Italien und kommt auch dieses Weihnachten nicht nach Hause. „Sie sagt, sie muss Geld sparen und wird Marika durch Western Union ein paar große Geld- scheine schicken.“ Das Geld, das die Eltern ihren Kindern aus der Ferne schicken, ist meist der größte Teil des Familieneinkommens, schreibt der Journalist Keno Verseck in seinem Nachwort. Die Eltern sind also nicht verantwortungslos und lassen ihre Kinder nicht ohne Grund allein. „Das wissen die Kinder. Und das ist vielleicht auch, was sie am meisten zerreißt: Die große Sehnsucht nach den Eltern begleitet sie ständig, sie ist eines der Grundgefühle im Alltag. Gleichzeitig sollen sie […] Read More › Die Schule
Text: Kirsten Winderlich Repros: Elisa Bauer Dass man in der Schule nur lernen kann, wenn man sich wohlfühlt, weiß jedes Kind. Dass Klassen- und Schulgemeinschaft ohne das Engagement der Schülerinnen und Schüler, der Lehrkräfte, Eltern, Hausmeister und Sekretärinnen nicht gelebt werden kann, wollen viele nicht wissen. Warum wird nicht mehr dafür getan, dass sich Kinder in der Schule an- und aufgenommen fühlen? Warum wird zugelassen, dass Kinder ausgeschlossen und gedemütigt werden? Und warum haben so viele Kinder Angst, Diskriminierungen unmittelbar zu begegnen? Britta Teckentrup konfrontiert uns in ihrem Bilderbuch nicht nur mit dem Mikrokosmos Schule, in dem Ausgrenzung und Mobbing an der Tagesordnung sind, sondern führt uns mit ihrer Erzählerin, einer Schülerin, vor, wie den Kindern mit Einfühlungsvermögen und Wahrnehmungsfähigkeit, Offenheit und Toleranz, Engagement und Mut so begegnet werden kann, dass alle Stärkung und letztlich Bildung erfahren können. Ob Schule nicht nur ein Aufenthaltsort, sondern auch ein würdiger Lebensort sein kann, hängt von den Menschen ab, die diesen Ort tagtäglich betreten. Entsprechend fokussiert die Künstlerin mit ihren analog wie digital produzierten Collagen aus divers bedruckten Papieren Mimik, Blicke und Körperhaltungen. So können wir wahrnehmen, wie Max allein auf dem Schulhof sitzt, den Blick gesenkt hält und die Arme angespannt an […] Read More ›