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Zug der Fische

Text: Kirsten Winderlich
Repros: Elisa Bauer

Kaum merkbar schlängelt sich ein Fluss vor der riesigen, schneebedeckten Gebirgskette ins Bild. Blau leuchtende Fische gleiten über die Steine auf seinem Grund. „Der Brusturka fließt durch das ganze karpatische Dorf Brusturiv. Für die Kinder und Kühe ist er das beliebteste Versteck im Sommer. Hier ist ihr Reich. Hier findet sie keiner.“ 

Was wie eine Idylle anmutet, ist ambivalent. Im Bilderbuch „Zug der Fische“ erzählen Yaroslava Black und Ulrike Jänichen die Geschichte von Kindern in der Ukraine, die den Alltag und ihr Überleben ohne Eltern sichern müssen. So auch Marika. Ihre Mutter arbeitet in Italien und kommt auch dieses Weihnachten nicht nach Hause. „Sie sagt, sie muss Geld sparen und wird Marika durch Western Union ein paar große Geld- scheine schicken.“ 

Das Geld, das die Eltern ihren Kindern aus der Ferne schicken, ist meist der größte Teil des Familieneinkommens, schreibt der Journalist Keno Verseck in seinem Nachwort. Die Eltern sind also nicht verantwortungslos und lassen ihre Kinder nicht ohne Grund allein. „Das wissen die Kinder. Und das ist vielleicht auch, was sie am meisten zerreißt: Die große Sehnsucht nach den Eltern begleitet sie ständig, sie ist eines der Grundgefühle im Alltag. Gleichzeitig sollen sie ihren Eltern für deren Abwesenheit dankbar sein oder fühlen sich jedenfalls dazu verpflichtet“, so Verseck. 

Eine hilflose, fast wütenden Sehnsucht prägt auch die Szene zu Weih- nachten am Fluss. Wir können Iwan, einen der älteren Jugendlichen im Dorf, vor dem alle Respekt haben, „auch fremde Hunde“, beobachten, während er, über einen Stein gebeugt, schreibt. Es sind Geldscheine, die er mit blauer Tinte beschreibt, die Geldscheine, für die die Eltern der Kinder und Jugendlichen im Ausland, weit fort von ihnen, hart arbeiten. Er will, dass auch Marika ihre Geldscheine mit einer Botschaft an ihre Mutter versieht und sie dem Fluss übergibt. „Komm zurück“, schreibt Hanka an ihre Mutter, „es gibt genug Blaubeeren in den Karpaten.“ „Komm zurück!“ steht auch auf Marikas Schein. Hinzugefügt hat sie den Weihnachtsgruß: „Christus wird geboren!“ Und noch kleiner in die Ecke: „…nur, ohne dich merke ich es nicht.“ 

Für die Kinder in ihrer Einsamkeit sind nicht nur verlässliche Rituale wie das Spielen am Fluss oder das Beobachten der Fische, sondern auch das Wissen um die Beständigkeit ihres unmittelbaren Lebensumfelds von besonderem Gewicht. Deshalb legt die Künstlerin Ulrike Jänichen in ihren Buntstiftzeichnungen einen besonderen Fokus auf Details wie das bunt- gemusterte Kopftuch Marikas, das ihr helfen wird, die randvoll gefüllten Körbe mit Blaubeeren zu tragen. 

Bildnerisch besonders feinsinnig ausgearbeitet ist der Lehmofen, der die Stuben der einfachen Holzhäuser in den Karpaten mit Leben füllt. Die vielfarbig gemusterten Flickenteppiche und Decken machen deutlich, dass der Ofen nicht nur zum Kochen und Trocknen der Wäsche dient, sondern ein wärmender Aufenthaltsort für Groß und Klein ist. Auch die Bilder an der Wand zeigen alles für Marikas Leben Bedeutsame: die Hochzeitsfotos der Großeltern, Marienbilder, Bilder von Pferden, Katzen und eine Land- karte, die sichtbar macht, wie fern Marikas Mutter ist. Und schließlich sind es die Briefe der Mutter, von der Künstlerin minutiös mit Marikas Namen in kyrillischer Schrift, mit Briefmarken und Poststempel versehen, die Marika sicher in den Schlaf tragen. 

Dieser Beitrag ist in der Publikation »Verwundbare Kindheiten. Eine Anthologie zeitgenössischer Bilderbuchkunst« erschienen. Hier geht es zur Publikation mit weiteren spannenden Bilderbüchern:
https://wamiki.de/shop/buecher/verwundbare-kindheiten-eine-anthologie-zeitgenoessischer-bilderbuchkunst/

Yaroslava Black / Ulrike Jänichen (Ill.)

Zug der Fische

Carlsen 2020
32 Seiten, durchgehend farbig illustriert,
Hardcover, 21.5 x 1 x 29.1 cm
ISBN: 978-3-551-51197-3
€ (D): 18,00 / € (A): 18,50 / CHF: 28,90

Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption 

Ulrike Jänichen spiegelt in ihren Bildern all das, was Marikas Alltag prägt. Dabei spielt der Briefwechsel mit der Mutter eine zentrale Rolle. Regelmäßig schreibt Marika ihrer Mutter eine Postkarte. Sie hat Sehnsucht nach ihr und möchte, dass sie zurückkommt. Auf einer Postkarte schreibt sie, dass Weihnachten für sie ohne die Mutter keine Bedeutung hat, weil sie den Sinn des Festes nicht spüren kann. 

Was würdest du deinen Eltern schreiben, wenn sie fort wären und du Sehnsucht nach ihnen hättest?