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Jacominus Gainsboroughs Welt

Jacominus Gainsboroughs Welt Zu den virtuosen Bilderbüchern von Rébecca Dautremer Text: Kirsten Winderlich Fotos: Elisa Bauer Video »Punkt 12«: Elisa Bauer / Sprecherin: Helen Naujoks Sei es das ganze Leben oder ein winziger Augenblick, sei es eine Verabredung zu zweit oder eine wunderbare Sache, immer geht es in den Bilderbüchern zu Jacominus Gainsborough von Rébecca Dautremer um das Fragile und Flüchtige des Lebens, um Momente der Begegnung und Beziehung, die sie Seite für Seite durch ihre Bilder und poetischen Erzählungen feiert. Im Grunde ist es das Thema der Zeit, das alle Bücher verbindet. Dautremer durchdringt dieses in ihren mannigfaltigen Facetten durch Bild und Text, aber auch durch die hochkomplexen wie kunstvollen Formate der Bücher. So halten wir mit einer »winzig kleinen Sekunde« (2022) ein Leporello in den Händen, das uns nach Aufklappen von sieben Seitenflügeln mit einem über zwei Meter breiten Gemälde beschenkt und dessen Entstehungsprozess im zeichnerischen Stadium wir auf der Rückseite betrachten dürfen. 100 Protagonisten tümmeln sich in dem gigantischen farbenprächtigen Panorama. Ein paar dieser bemerkenswerten Mischwesen sind uns bereits aus dem »Stundenbuch des Jacominus Gainsborough« (2016) bekannt. Ein Begleitheft lässt uns einen liebevollen Blick auf jede einzelne Figur werfen und uns an ihren Geschichten teilhaben. So lernen […]
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Eine Stadt

Eine Stadt Begegnungen Linda Wolfsgruber Text: Kirsten Winderlich Repros: Elisa Bauer »Stadt ist, wo Menschen sind« sagte einmal Jochen Gerz und betont mit dieser Aussage, dass das Gebaute ohne öffentliche Räume, in denen sich Menschen aufhalten und einander begegnen, keine Stadt werden kann. Stadtteile werden gebaut, erweitert und transformiert. Manchmal entstehen sie auch gänzlich neu, so wie die Seestadt im Gemeindebezirk Donaustadt in Wien, die Linda Wolfsgruber eines Tages im Jahr 2019 mit ihrem Begleiter Pipin entdeckt. Bei der Seestadt handelt es sich um das aktuell größte Stadtteilentwicklungsprojekt Europas, bei dem der Anteil der öffentlichen Räume über 50 Prozent ausmachen wird. Nach Fertigstellung, konkret bis in die 2030er Jahre, sollen in der Seestadt mehr als 25.000 Menschen wohnen und mehr als 20.000 Menschen arbeiten. Klar, dass Linda Wolfsgruber bei ihren zahlreichen Erkundungstouren aktuell noch wenige Menschen begegnen. Und die Assoziation Pipins zu Georgio de Chirico (1888-1978), der als Hauptvertreter der metaphysischen Malerei gilt, ist nur allzu verständlich, wenn wir uns de Chiricos menschenleeren und traumähnlichen Stadtansichten vor Augen führen. Um so wichtiger, dass Linda Wolfsgruber die Menschen, die ihr während ihrer flanierend-fotografischen Forschungsarbeit über den Weg laufen, zum Sprechen bringt: Was prägt ihren Alltag? Was bewegt sie? Wovon träumen sie? […]
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Moor Myrte und das Zaubergarn

Moor Myrte und das Zaubergarn
 Sid Sharp Text: Kirsten Winderlich Repros: Elisa Bauer Sid Sharp erzählt die Geschichte zweier Schwestern, die so arm sind, dass sie zum Frühstück Ratten und zu Mittag Kakerlaken essen. Trotz der widrigen Umstände, denen die beiden Schwestern gleichermaßen ausgesetzt sind, können sie ungleicher nicht sein. Ist Beatrice, die »Seligmachende«, zuversichtlich und zugewandt und hat zudem Freude am Naturforschen und Basteln, tritt Magnolia stets mürrisch, pessimistisch und abweisend auf und empfindet nicht zuletzt Genugtuung daran, Spinnen die Beine auszureißen. Die Spinnen sind es dann auch, die sich in mehrfacher Hinsicht als versteckte Hauptrolle wie ein Faden durch die Geschichte ziehen und sich buchstäblich ins Bild abseilen: als Ressource, Revolutionäre und Retter. Zum einen treffen wir in dem Bilderbuch auf die uns aus dem eigenen Alltag bekannten Gliederfüßer, die in dem kaputten und zugigen Haus der Schwestern verlässlich die Fliegen fangen. Und zum anderen zieht die »Moor Myrte«, ein fabelhaftes Wesen von einem Spinnentier, in ihren Bann. Dass Moor Myrte Beatrice ihre Zauberseide schenkt, ist im Nachhinein nicht nur als Komplott gegen die nörgelnde und eigennützige Magnolia zu deuten, sondern auch als überraschende Verknüpfung von knallharter Realität und märchenhafter Fügung. So helfen die Tierchen die Zauberseide zu […]
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Aber ich lebe

Text: Kirsten Winderlich Repros: Elisa Bauer „Aber ich lebe“ ist eine Graphic Novel zum Holocaust, die nach einer kollektiven Forschungsarbeit entstand, in der Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar in einen Austauschprozess mit Holocaust-Überleben- den traten. Das Forschungsprojekt wurde 2019 von Charlotte Schallié ini- tiiert und beteiligte über einen Zeitraum von drei Jahren auch Experten für Holocaust- und Menschenrechtspädagogik, Historiker*innen, Lehrkräfte, Lehramtsstudierende, Bibliothekare und Archivare.  Visuelles Erzählen eignet sich „besonders für die Geschichten von Über- lebenden, die im Holocaust noch Kinder waren. Denn Bilder prägen sich tief in das Gedächtnis von Kindern ein.“1 So vermittelt das Bilderbuch nicht nur die „Zeugnisse“ der Überlebenden, sondern kann im Sinne des (Auf-) Zeichnens auch Erinnerungen hervorlocken. Konkret wurden drei Künstler*innen, Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar, eingeladen, sich mit vier Kinderüberlebenden des Holocaust zu treffen und gemeinsam mögliche Themen und Handlungsstränge ihrer persönlichen Geschichten aufzuspüren. „Auf der Grundlage dieser kreativen Sitzungen entwickelten sie erste Entwürfe und Storyboards, um die Erinnerungen und Reflexionen von David Schaffer, Nico und Rolf Kamp und Emmie Arbel in visuelle Erzählungen umzusetzen, die die Integrität, Individualität und Würde der Überlebenden und ihre Erfahrungen respektieren.“2  Entstanden sind drei visuelle Erzählungen, in denen nicht nur Vergangenheit und Gegenwart ineinandergreifen, […]
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Zug der Fische

Text: Kirsten Winderlich Repros: Elisa Bauer Kaum merkbar schlängelt sich ein Fluss vor der riesigen, schneebedeckten Gebirgskette ins Bild. Blau leuchtende Fische gleiten über die Steine auf seinem Grund. „Der Brusturka fließt durch das ganze karpatische Dorf Brusturiv. Für die Kinder und Kühe ist er das beliebteste Versteck im Sommer. Hier ist ihr Reich. Hier findet sie keiner.“  Was wie eine Idylle anmutet, ist ambivalent. Im Bilderbuch „Zug der Fische“ erzählen Yaroslava Black und Ulrike Jänichen die Geschichte von Kindern in der Ukraine, die den Alltag und ihr Überleben ohne Eltern sichern müssen. So auch Marika. Ihre Mutter arbeitet in Italien und kommt auch dieses Weihnachten nicht nach Hause. „Sie sagt, sie muss Geld sparen und wird Marika durch Western Union ein paar große Geld- scheine schicken.“  Das Geld, das die Eltern ihren Kindern aus der Ferne schicken, ist meist der größte Teil des Familieneinkommens, schreibt der Journalist Keno Verseck in seinem Nachwort. Die Eltern sind also nicht verantwortungslos und lassen ihre Kinder nicht ohne Grund allein. „Das wissen die Kinder. Und das ist vielleicht auch, was sie am meisten zerreißt: Die große Sehnsucht nach den Eltern begleitet sie ständig, sie ist eines der Grundgefühle im Alltag. Gleichzeitig sollen sie […]
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Die Schule 

Text: Kirsten Winderlich Repros: Elisa Bauer Dass man in der Schule nur lernen kann, wenn man sich wohlfühlt, weiß jedes Kind. Dass Klassen- und Schulgemeinschaft ohne das Engagement der Schülerinnen und Schüler, der Lehrkräfte, Eltern, Hausmeister und Sekretärinnen nicht gelebt werden kann, wollen viele nicht wissen. Warum wird nicht mehr dafür getan, dass sich Kinder in der Schule an- und aufgenommen fühlen? Warum wird zugelassen, dass Kinder ausgeschlossen und gedemütigt werden? Und warum haben so viele Kinder Angst, Diskriminierungen unmittelbar zu begegnen? Britta Teckentrup konfrontiert uns in ihrem Bilderbuch nicht nur mit dem Mikrokosmos Schule, in dem Ausgrenzung und Mobbing an der Tagesordnung sind, sondern führt uns mit ihrer Erzählerin, einer Schülerin, vor, wie den Kindern mit Einfühlungsvermögen und Wahrnehmungsfähigkeit, Offenheit und Toleranz, Engagement und Mut so begegnet werden kann, dass alle Stärkung und letztlich Bildung erfahren können.  Ob Schule nicht nur ein Aufenthaltsort, sondern auch ein würdiger Lebensort sein kann, hängt von den Menschen ab, die diesen Ort tagtäglich betreten. Entsprechend fokussiert die Künstlerin mit ihren analog wie digital produzierten Collagen aus divers bedruckten Papieren Mimik, Blicke und Körperhaltungen. So können wir wahrnehmen, wie Max allein auf dem Schulhof sitzt, den Blick gesenkt hält und die Arme angespannt an […]
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Ins Museum!

Über die Museumskarten von Kirsten Winderlich und Mark Lammert Text: Helen Naujoks Fotos: Stefanie Johns Sind es Objekte? Gute Frage. Das weiß ich gar nicht so genau. Unter Objekt habe ich mir noch nie eine Museumskarte vorgestellt. Was aber ist es, wenn es kein Objekt ist? Diese Museumskarte ist auf jeden Fall ein Stück Papier, das gut in der Hand liegt und eine raffinierte Faltung hat. Sie gibt erste Hinweise darauf, was sich darin verbergen könnte ohne gänzlich zu verraten, was genau es ist. Dieses gefaltete Papier funktioniert ein bisschen wie eine Schatztruhe, in deren Schloss schon der Schlüssel steckt, der nur noch umgedreht werden will. Oder wie ein Blick durchs Schlüsselloch selbst, der einen Ausschnitt umreißt, aber eben nicht alles zeigt. Die Karte macht neugierig und möchte entschlüsselt und aufgefaltet werden. Ohne zu viel nachzudenken, lande ich zuerst auf der farbigen Seite und lese die rote, handschriftlich verfasste Beschreibung der Lieblingsfigur einer Person. »Wer ist diese Person, die über ihre Lieblingsfigur schreibt?«, frage ich mich. Sie mag wohl jemand sein, die sich Zeit genommen hat, eine Widmung oder besser eine Liebeserklärung an ein Objekt zu verfassen. Deshalb vielleicht auch die rote Schrift. Ich tauche ein in einen intimen Moment […]
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Ein Kind verschwindet

Jens Thieles neues Bilderbuch brilliert mit einem Tabuthema: Ein Kind verschwindet. Text: Kirsten Winderlich Der erste Gedanke: Was für eine Katastrophe! Sofort denken wir an Kinder, die plötzlich und unerwartet einfach nicht mehr da sind und von denen Angehörige nie mehr etwas erfahren werden. Wurden sie entführt? Sind sie noch am Leben? Oder sind sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen? Neben diesen bedrückenden Szenarien gibt es auch positive Beweggründe für das Verschwinden eines Kindes, entwicklungspsychologisch begründete und damit das Kind auch stärkende. Wer kennt den Wunsch nicht aus seiner eigenen Kindheit, einfach einmal weg zu sein, aus Abenteuerlust in die Welt zu gehen, sich dabei zu spüren oder einfach an einem anderen Ort als zu Hause zu sein? Das Fort-Gehen und Fort-Sein kann demnach auch als aus dem Inneren motivierte Lust an der Auseinandersetzung mit dem Anderen und Fremden verstanden werden, als Herausforderung, an der Kinder wachsen, wachsen wollen. Und genau an dieser Schnittstelle bewegt sich Jens Thieles neues Bilderbuch: zwischen der Sehnsucht von Kindern, woanders zu sein, und dem gleichzeitig auch als verunsichernd oder gar beängstigend und bedrohend erlebten Zustand, während der geschützte Raum des gewohnten Alltags – das Zuhause – verlassen wird. Um diese zerbrechlichen Übergänge zwischen innerem […]
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Mein Buch — Rezension

Fotos: Elisa Bauer Text: Jens Thiele Bilderbücher, die ihre Adressaten aus der Rezeptionshaltung heraus­locken und zur aktiven Gestaltung motivieren wollen, haben es auf dem Buchmarkt traditionell schwer. Sie werden oft in die Sach- und Spielbuchecke gedrängt. Einen ähnlich schweren Stand haben Bilderbücher, deren Illustrationen von Kindern und nicht von professionellen Illustratoren angefertigt werden; auch sie sind auf dem Markt nicht nachgefragt, wie zahlreiche Versuche belegen. Mit diesen beiden Hypotheken geht Mein Buch an den Start, ein Projekt, das in der grund_schule der künste an der Universität der Künste Berlin in Kooperation mit wamiki entwickelt wurde. Es geht um einen offenen, kreativen Umgang mit Sprache und Bildern, mit Buchstaben, Wörtern und Bildzeichen. Es geht um Zugänge zur Bildung durch eigene Erfahrungen mit dem Erzählen von Geschichten. Was zunächst nach einem Lernlesebuch für die Grundschule klingt, ist tatsächlich etwas grundlegend Anderes. Das wird schon am Design deutlich: Man öffnet nicht ein Buch, sondern eine Pappschachtel, in der drei Hefte sowie zwei dicke Buntstifte liegen, ergänzt durch einen Stapel leerer Buchseiten. Heft 1 bietet Ansätze von Geschichten, überwiegend in Bildern erzählt, die Kinder angefertigt haben. Diese Geschichtsanfänge können weitererzählt oder umgedeutet werden, durch eigene Zeichnungen auf freien Heftseiten oder durch Hineinzeichnen in vorhandene […]
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