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Zusammenkunft in den Dünen

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Zusammenkunft in den Dünen
Zum Bilderbuch „Der kleine Fuchs“ von Edward van de Vendel und Marije Tolman (Ill.)*

Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer

„Guck mal, ich hab auch einen Fuchs!“ Stolz zeigt das Mädchen auf ihren Fuß. Tatsächlich ist das Motiv ihrer Socke dem Held der Bilderbuchgeschichte von Edward van de Vendel und Marije Tolman sehr ähnlich. Zuhause in einer Dünenlandschaft am Meer, die gleich mehrere an der Bilderbuchbesprechung beteiligten Kinder als Nordsee identifizieren, spielt der junge Fuchs inmitten von Möwen, Austernfischern und anderen Küstenvögeln am Strand. Die Kinder bemerken, dass der Fuchs einen Kormoran nachahmt. Er wolle auch fliegen, sind sie fester Überzeugung. Der Fuchs wagt sich schließlich in den angrenzenden Kiefernwald vor und trifft dort auf andere Tiere. Neugierig blickt der Protagonist auf ein Rotkehlchen. „Er will es nur kennenlernen und nicht fressen“, interpretiert ein Junge die Körperhaltung des Tieres. Auf den Folgeseiten entdeckt der Fuchs zwei Schmetterlinge, denen er zurück in die Dünen folgt. Nach fünf doppelseitigen Dünenlandschaftsbildern ohne Text wird die schriftliche Erzählung am oberen Rand der linken Buchseite initiiert. Und wir erfahren den profanen wie gleichzeitig auch erstaunlichen Grund für die Aufnahme der Verfolgung der Falter: Sie sind lilafarben! Die flatternden Farbtupfer sind es dann auch, die den Fuchs in eine andere Welt entführen. Der waghalsige Sprung in die Lüfte dauert nicht lange. Nach dem unaufhörlichen Fall endet er mit einem Schlag, der, mit Großbuchstaben ausgewiesen, die Tür für etwas Anderes und Neues öffnet. Und in der Tat entdecken wir den Fuchs auf der Folgeseite auf dem Rücken liegend, „alle Viere von sich gestreckt“, in den Himmel blickend und lesen: „Und dann… dann beginnt sein Traum“.
Das Zusammenspiel der kolorierten Schwarz-Weiß-Fotografien und Zeichnungen inszenieren den Traum weniger als Parallel- oder Gegenwelt als vielmehr als Erfahrungsraum zwischen Realität und Fiktion. Dabei wird die Erfahrung der eigenen Geschichte des Aufwachsens und Großwerdens verknüpft mit Ängsten und Sehnsüchten. Auf diese Weise ist nur allzu nachvollziehbar, was wir am Horizont des Bildes lesen können: „So einen Traum hatte der kleine Fuchs noch nie.“ Vertieft in die frühe Kindheit, erinnert sich der Fuchs an die Geborgenheit in seiner Familie, an das Tollen mit den Geschwistern und an die ersten Berührungen mit der Welt außerhalb des Baus. Alles ist erst einmal neu für ihn: das Moos, die Blumen und Gräser. „Er weiß noch nicht, dass der Mond die Sonne ist, die schläft.“ „Er weiß noch nicht, dass die Sonne den Mond anstrahlt“, kommentiert eines der Kinder. Dann lernt der Fuchs zwischen Nutzen und sinnlichem Erlebnis als Selbstzweck zu unterscheiden: Die kleinen Tiere eignen sich zum Fressen, die großen eher nicht. Und gleichzeitig erfährt der Fuchs, dass einem die Haare hochwehen, wenn man sich in den Wind stellt. „Und wenn man sich umdreht, weht es sie zur anderen Seite!“ „Der Traum geht weiter“, heißt es in der Geschichte. Der Fuchs begegnet einem großen Tier, einem Rehkitz, das zu seinem Erstaunen keine Angst vor ihm hat. Zuerst trinken sie Seite an Seite und schließlich schleckt der Fuchs dem Kitz die verbleibenden Wassertropfen von der Schnauze. Was für ein Vertrauensbeweis! Und gleichzeitig ein Zeichen, dass der Fuchs beginnt, Beziehungen außerhalb seiner Familie anzubahnen und Freunde zu suchen. Auf den folgenden Doppelseiten taucht plötzlich ein Junge auf, der sich bestimmt mit dem Fuchs anfreunden wird, vermuten die Kinder. Einen Hinweis darauf gäben die orangefarbenen Haare des Jungen, die der Fellfarbe des Fuchses gleichen. Sie stellen zudem fest, dass der Junge ganz ähnliche Dinge tut wie der Fuchs: So jagt er Schwänen und anderen Tieren hinterher, tollt im Wasser und entdeckt schließlich den angrenzenden Kiefernwald. Es kann nur eine Frage der Zeit sein, wann der Junge auf den Fuchs trifft, finden die Kinder. Dass der Junge beim Picknick in den Dünen bereits zwei Rehkitzen begegnet ist, deuten sie als Zeichen, dass es bald so sein wird. In der Zwischenzeit träumt der Fuchs weiter. Aus den Buntstift- und Pastellzeichnungen leuchten immer wieder der Fuchs, seine Eltern und Geschwister hervor und wir werden Zeuge von dem, was der Fuchs lernt: „Früchte und Beeren – die pflückt man mit den Lippen. Ein Wurm – auf den springt man drauf.“ „Füchse essen Würmer, wie ich Spagetti“, erzählt ein Mädchen angeregt, die in der Schule gerade an einem Buch über das Verhalten von Füchsen arbeitet. Der Fuchs lernt, dass Neugier einem nicht nur helfen kann, das unbekannte Schöne zu entdecken, sondern manchmal auch gefährlich ist. Ob der Fuchsvater Recht hat, dass Neugier automatisch Todesgier bedeutet, darüber debattieren die Kinder sehr intensiv. Sie finden, dass das Positive der Neugier überwiegt. Der junge Fuchs scheint diese Meinung mit den Kindern zu teilen, so wird er nicht müde im Spiel Neues zu entdecken. Er zeigt sich nur einen kleinen Moment verunsichert, als der Junge „ins Spiel“ kommt und sich dem Fuchs mit seinem Fotoapparat nähert: „Klick!“ Doch dann passiert es: Der Fuchs bleibt mit seinem Kopf in einem Gefäß stecken, in dem er Fressen vermutet hat. Zum Glück ist der Junge da und hilft ihm, sich zu befreien. Es ist also nicht nur ein schöner Traum, den der Fuchs erlebt. Das wird auch noch einmal deutlich, als der Fuchs aus seinem Traum erwacht. Erneut eingeleitet durch die lilafarbenen Schmetterlinge, einen Sprung und einen Schlag, hat der Fuchs die Augen geschlossen. Die Kinder können diese Starre, in der sich der Fuchs befindet, nur allzu gut verstehen. Auch sie haben diesen irritierenden Zustand mehrfach erlebt, was es heißt beim Aufwachen, nicht zu wissen, ob man noch träumt oder sich bereits in der Wirklichkeit befindet. Zum Glück ist der Junge da, nimmt den Fuchs auf den Arm und trägt ihn durch die Dünen. Die Vögel und Waldtiere folgen mit gesenkten Köpfen. „Wie ein Trauermarsch“, meint ein Junge. „Weil sie nicht wissen, ob er gestorben ist,“ führt ein anderer weiter aus. Zum Glück riecht der Fuchs seine Familie und öffnet seine Augen und alles ist gut. Er wird nie wieder lilafarbenen Schmetterlingen hinterherlaufen. „Warum eigentlich nicht?“, fragen die Kinder. „Sie waren doch auch sein Glück, denn ohne sie hätte er nicht geträumt!“

Edward van de Vendel, Marije Tolman
Der kleine Fuchs
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Gerstenberg 2020
88 Seiten, durchgängig farbig illustriert
Hardcover, 18 x 24 cm
ISBN: 978-3-8369-6044-1
€ (D): 14,00 / € (A): 14,40 / CHF: 19.50

Anregungen für eine erweiterte ästhetische Rezeption des Bilderbuches
In der Bilderbuchwerkstatt der grund_schule der künste werden nicht nur Bilderbücher gemeinsam mit Kindern betrachtet, sondern darüber hinaus Impulse für eine erweiterte Rezeption aus der Bilderbuchkunst heraus erarbeitet. Das Bilderbuch von Edward van de Vendel und Marije Tolman regt an, Landschaften zu fotografieren, mit Hilfe von Kolorierung und Zeichnung in Traumlandschaften zu transformieren und dabei eigene Traumgeschichten zu erzählen, Figuren und Handlungen für die Geschichten zu erfinden. Spannend ist darüber hinaus anlässlich der Bilderbuchgeschichte, darüber nachzudenken, was alles Landschaft sein kann, bzw. wo wir diese neben Strand, Wald und Feld überall finden können: In der Stadt? Im Blumentopf? Im Kühlschrank?

*Die Rezension basiert auf der Arbeit mit Kindern in der Bilderbuchwerkstatt der grund_schule der künste der UdK Berlin. Sie bindet die Zugänge und Aneignungsprozesse ein, die beim gemeinsamen Betrachten und Lesen des Bilderbuches mit Kindern einer 4. Klasse der Annie-Heuser-Schule in Berlin-Charlottenburg/Wilmersdorf am 25. Februar 2020 zum Erscheinen kamen.