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Zin
Ein Bilderbuch aus dem Libanon

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von Hassan Zahreddine

Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer

 

Zwischen Verwundbarkeit und Selbstbehauptung

Hassan Zahreddine erzählt mit seinem Bilderbuch Zin die Geschichte eines Kindes, das erfährt, was es bedeutet, lesen und schreiben zu können und über diese Fähigkeiten für seine Rechte einzustehen. Es ist die Geschichte des eigenen Vaters und damit auch Zahreddines eigene, der er durch Skizzierung von Momentaufnahmen nachspürt und durch das Mezzotinto-Druckverfahren hervorlockt. „Dazu habe ich Verborgenes aus seiner Kindheit ausgegraben und auf dünne Kupferplatten geschabt“, schreibt Zahreddine im Nachwort. Diese persönliche Erinnerungsarbeit mit dokumentarischem Duktus vermittelt Zahreddine über die überwiegend dunkel sowie in Braun- und Grautönen gehaltenen Bilder.
Der Vater des 1969 geborenen Künstlers, Zineddine, ging nicht zur Schule. Weil die Familie kaum etwas zu Essen hatte, half er in einer Druckerei aus und lernte dort durch das Setzen der Buchstaben lesen und schreiben. Aus Zineddine wurde Zin, denn der vollständige Name hatte nach Ansicht des Meisters zu viele Buchstaben. Die Reduktion seines Namens zur Kurzform, die im ersten Moment als ein Kleinhalten des Jungen interpretiert werden kann, steht im Verlauf für Zins kontinuierliche Selbstermächtigung. Durch das Erlernen des Druckhandwerks sowie des Lesens und Schreibens wächst Zin über sich hinaus. Der Meister sprach ihm dabei Mut zu und versicherte, dass er das Lesen und Schreiben durch bloße und wiederholte Durchführung des Setzens der einzelnen Buchstaben-Bausteine erlernen würde. Und so war es auch: der eigene Antrieb, der Zuspruch sowie das verlässliche, eigene Erleben von Sinnhaftigkeit sind die besten Lehrer!
Zin erfährt persönliche Stärkung, wie auch die Porträts zeigen. Schauen wir zu Beginn der Erzählung in ein Gesicht mit noch kindlichen Zügen, dessen „Augenblick“ mit einer für Kinder eher ungewöhnlichen Ernsthaftigkeit auf die Zukunft gerichtet scheint und ein Gefühl der Unsicherheit ausstrahlt, verändert sich Zins Ausdruck und Haltung von Bild zu Bild: In sich ruhend und gleichzeitig vertieft in das Lesen einer Textseite, selbstbewusst hinter der Druckmaschine stehend, versunken in das eigene Schreiben und schließlich wie ein Meister vor der Druckpresse positioniert. Bietet die Druckmaschine Zin zu Beginn seines Entwicklungsprozesses Halt, beherrscht er später den Umgang mit der Maschine vortrefflich. Zahreddine verdeutlicht diesen sich verändernden Selbst- und Weltbezug in zwei Porträts besonders eindrücklich. Rückt er in einem Porträt die Gewindepresse in den Vordergrund und nimmt diese knapp zwei Drittel des Bildträgers ein, wird die Presse in einem späteren Porträt in den Hintergrund geschoben. Stützen sich Kopf und Oberkörper Zins im erst genannten Porträt auf deren Hebelarm und erscheinen damit Mensch und Maschine symbiotisch, wird Zin in dem letzteren Porträt erstmalig als Ganzfigur dargestellt. Die Druckmaschine bietet ihm immer noch Rückhalt. Zin strahlt jedoch unmissverständlich aus, dass er die Maschine zu „beherrschen“ vermag und damit an Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit gewonnen hat. Zins Prozess der Selbstermächtigung geht auch einher mit der Lust an Gemeinschaft sowie wachsendem politischen Interesse. „Die Mittagsstunde liebte Zin ganz besonders. Alle setzten sich um einen großen Tisch und teilten ihr Essen“, erzählt Zahreddine. An einem Abend wurde Zin auf dem Weg nach Hause Zeuge, wie ein Mann Flugblätter verteilte und dabei wegrannte. Zin hob eines von der Straße auf und erkannte, dass er das Blatt gemeinsam mit dem Meister gedruckt hatte. „Was stand auf dem Papier? Warum fanden die Menschen es so interessant? Und warum rannte die Polizei dem Mann mit den Blättern hinterher?“ Spätestens in diesem Moment wird sich Zin seiner gesellschaftlichen Verantwortung gewahr. Zuhause angekommen, „entzifferte er das erste Wort: Streik. Bei jedem weiteren Wort klopfte sein Herz lauter. Er las Zeile um Zeile, Satz um Satz. Er las noch einmal und noch einmal, bis die Kerze erlosch.“ Dass Zahreddine mit seinem Vater nicht nur die Liebe zur Drucktechnik teilt, sondern auch die Erfahrung, sich mit seiner eigenen Stimme in die Gesellschaft einzubringen, sei es durch das Drucken von Flugblättern, wie es der Vater praktizierte, oder durch künstlerisches Tätigwerden, stellt er mit seinem Bilderbuch und seiner Druckkunst meisterhaft unter Beweis.

Dieser Beitrag ist in der Publikation »Verwundbare Kindheiten. Eine Anthologie zeitgenössischer Bilderbuchkunst« erschienen. Hier geht es zur Publikation mit weiteren spannenden Bilderbüchern:
https://wamiki.de/shop/buecher/verwundbare-kindheiten-eine-anthologie-zeitgenoessischer-bilderbuchkunst/

Hassan Zahreddine
Zin

Eine Geschichte aus dem Libanon
Aus dem Arabischen von Leila Chammaa
Baobab 2022
32 Seiten, vornehmlich schwarz-weiß illustriert
Hardcover, 20,5 x 25,5 cm
ISBN: 978-3-907-27712-6
€ (D): 19,50 / € (A): 20,10 / CHF: 26,00

Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption

Setting: Projektion des Bilderbuches, Papierbahn, diverse Buchstabenstempel

Impuls: Mit zunehmender Fähigkeit lesen zu können, verändert sich Zins Gesichtsausdruck und Körperhaltung. Schaut Euch die einzelnen Porträts genau an und versucht sie zu beschreiben. Nutzt dafür Adjektive – ihr könnt gerne auch welche erfinden! – und stempelt diese auf die Papierbahn. Stempelt alle Wörter untereinander, wie in einem Fluss. Zum Schluss habt ihr ein Wörterbild, das erzählt, wie Zin das Lesen- und Schreiben-Können stark gemacht hat.