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Nicky & Vera

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Ein stiller Held des Holocaust und die Kinder, die er rettete

Ein Bilderbuch von Peter Sís

Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer

Die Geschichte von Nicky und Vera wäre fast nicht erzählt worden! Der Engländer Nicky, mit vollständigem Namen Nicholas Winton, hat 669 jüdische Kinder vor dem Holocaust gerettet. So auch Vera Gissing, die 1939 ihre Familie verlässt und mit Hilfe von Winton nach England flieht. Ihren beiden Lebensgeschichten widmet sich Peter Sís in seinem feinsinnigen Bilderbuch und erzählt diese, miteinander verwoben, in Anlehnung an historisches Bild- und Kartenmaterial bei gleichzeitiger Fokussierung des jeweils individuellen Erlebens, Denkens und Handelns. Dabei gelingt es ihm das Leid, das Menschen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus widerfahren ist, zum Erscheinen, und gleichzeitig den Mut von Einzelpersonen, sich den Nazis entgegen zu stellen, zum Ausdruck zu bringen. Als »Stille Helden« würdigt Peter Sís diese Personen und beschreibt Nicholas Winton als einen Menschen, der »sah, dass etwas falsch lief, und etwas tat, um es zu korrigieren, aber nie für sich in Anspruch nahm, ein Held zu sein«. (Peter Sís) Wie in einer zeichnerisch-kartografischen Forschungsarbeit geht der Künstler den Folgen des Nationalsozialismus über Mappings, Bildschichtungen wie Bildsequenzen nach. Er tut dabei im Grunde genau das, was Grete Djelstrup von Nicky, ihrem Ehemann, einforderte, nachdem sie 1988 die Sammlung der Unterlagen der geretteten Kinder gefunden hatte – nämlich die individuellen Geschichten zu erzählen, die Geschichte (auch) ausmachen. Das Bilderbuch beginnt mit einem Blick auf Nickys frühen Jahre, die einen eklatanten Kontrast zu den Kindheiten in Europa nur 30 Jahre später darstellen. In Nickys Schule wurden »die Kinder ermutigt, ihren Interessen nachzugehen«. Und es war dabei ganz »egal, wofür die Schüler sich interessierten«. Dagegen war das Leben der Kinder, die Nicky vor dem Holocaust rettete, von ständiger Bedrohung, Ängsten und Verzweiflung geprägt. Adolf Hitler stellte zunehmend eine Gefahr dar und im Dezember 1938 war es dann soweit. Nicky brach auf Bitten eines Freundes seinen geplanten Skiurlaub ab und ging nach Prag. Er erkannte, dass Krieg nahte und etwas getan werden müsse. Das Mapping zeigt sowohl Nicky mit seiner Skiausrüstung als auch Massen von Kindern, unter Zeltdächern Schutz suchend, im Zentrum des Bildes. Positioniert vor der Silhouette der Tschechoslowakai verweisen die auf das Land gerichteten Panzer wie die vier rahmenden Bildeinblicke auf die kommenden Gewalttaten: die Inszenierung der Reichsparteitage in Nürnberg, die Annexion Österreichs, dargestellt über die bildnerische Ausgestaltung des Umrisses des Deutschen Reiches einschließlich Österreichs zu einem Profilbild Hitlers, das Münchner Abkommen, die Novemberpogrome. Vera, zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt, war in einer kleinen Stadt in der Nähe von Prag zu Hause. Ihr Alltag war bis zum Einmarsch der deutschen Armee von Idylle und Geborgenheit geprägt, wie uns der Blick von oben in ihre Lebenswelt zeigt. Doppelt eingefriedet von Wald und Fluss ging das Leben verlässlich seinen Gang. Auch Vera hatte eine glückliche Kindheit und konnte wie Nicky ihren Interessen nachgehen. Sie liebte Katzen und nahm jede Streunende in Obhut und ihr Herz. Mit dem Einmarsch der deutschen Soldaten in die Tschechoslowakai änderte sich alles. Im Zentrum der Kartografie stehen nicht mehr die Idylle des Landlebens und keine Bilder unbeschwerter Stunden, wie beim Pilze-Sammeln, Lesen unter einem Baum oder Herumtollen mit den Katzen. Ein nicht endender Strom von Menschen, die aus Angst vor den Deutschen das Land verlassen wollen, durchzieht das Bild. Ein lauernder wölfischer Blick, einsame Babykörbe sowie ein Kompass an den Bildrändern verweisen auf die existentielle Bedrohung, die Ungewissheit für Kinder und Zukunft. Veras Eltern beschlossen, Nicky ihre Tochter Vera anzuvertrauen und mit einem Zug nach England zu schicken. Mit 67 Kindern bewegte sich Vera in das Ungewisse. »Sie und die anderen Kinder wussten nicht, was ihnen die Zukunft bringen würde. Und so erzählten sie sich Geschichten über das Leben, das sie zurückließen.« Diesen Schwebezustand der Kinder vermittelt Sís meisterhaft über ein königsblaues Universum, durch das sich der Zug, flankiert von sternenbildartigen zarten Zeichnungen, von Prag nach London wie durch einen Tagtraum schlängelt. Dass die Kinder die Hoffnung nicht aufgeben, zeigt das hellblau gehaltene Fenster im Waggon. Als Vera in London ankommt, hält sie nicht nur ihren Koffer in der Hand, sondern ist gedanklich ganz bei ihrem Zuhause, ihren Eltern und Tieren. Ihre Erinnerungen, wie das Schreiben ihres Tagebuches, dessen Seiten den Hintergrund der folgenden Bildseiten zunehmend verdichten, helfen ihr sich ohne ihre Familie in der neuen Welt zurechtzufinden. Dass man die Vergangenheit nicht ablegen kann, zeigt die letzte Episode von »Nicky und Vera« eindrücklich. Ende der 80er Jahre trifft Nicky im Rahmen einer britischen Fernsehsendung auf viele der Kinder, denen er das Leben gerettet hat. Mittlerweile erwachsen, sind ihnen ihre Kindheiten immer noch präsent. So zeigen die schwarz-weiß gehaltenen Silhouetten der erwachsenen Anwesenden eindrucksvoll mittels einer farbigen Zeichnung jeweils das »Kind in ihnen«.

Dieser Beitrag ist in der Publikation »Verwundbare Kindheiten. Eine Anthologie zeitgenössischer Bilderbuchkunst« erschienen. Hier geht es zur Publikation mit weiteren spannenden Bilderbüchern:
https://wamiki.de/shop/buecher/verwundbare-kindheiten-eine-anthologie-zeitgenoessischer-bilderbuchkunst/

Peter Sís
Nicky & Vera
Ein stiller Held des Holocaust und die Kinder, die er rettete
Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit
Gerstenberg 2022
64 Seiten, durchgehend farbig illustriert, Hardcover / 31 x 23 cm
ISBN: 978-3-8369-6151-6
€ (D): 18 / € (A): 18,50 / CHF: 28,90

Anregungen für eine erweiterte ästhetische Rezeption des Bilderbuches

Die Bilder sind sehr detailreich und vielschichtig. Ein wichtiges ästhetisches Merkmal sind Kartierung und Mapping, die zu Erkundung und Erforschung anregen. Aufgrund der Dichte der Bilder bietet es sich an, das Bilderbuch zu projizieren. In der Folge könnten ausgewählte Doppelseiten ausgedruckt auf einen auf dem Boden ausgerollten Fotohintergrund gelegt werden. Ähnlich wie bei den Bildern von Peter Sís könnten die Kinder ihre Entdeckungen in der Anlage eines Rahmens um die Bilder herum skizzieren und beschreiben. Folgende Fragen initiieren und unterstützen dabei eine forschende Auseinandersetzung mit Bildern und Geschichte: Du findest in dem Bilderbuch ganz unterschiedliche Karten, die miteinander kombiniert werden und die Geschichte(n) von Nicky und Vera erzählen: Landkarten, Karten, die Dinge, Bilder, Text- und Bildseiten aus Dokumenten und Büchern, Häuser, Landschaften, Wege und Menschen verknüpfen, Karten, die unseren Blick von oben oder von der Seite ins Bild holen, Karten, die mit Bildern im Bild von parallelen Ereignissen erzählen. Und dann gibt es auch versteckte Karten, die einem vielleicht nicht so schnell auffallen: Bildsequenzen oder -reihen auf den Silhouetten von Menschen. Was haben sie zu bedeuten? Was entdeckst Du in den Bildern? Was erzählen die Bilder? Und wie erzählt Peter Sís durch seine Bilder? Lege eigene Karten Deiner Entdeckungen an, schreibe und skizziere.

Die Bilderbuchwerkstatt für die vorliegende Rezension wurde von Elisa Bauer und Helen Naujoks begleitet. Lucie (10), Lore (10) und Vicco (8) waren dabei und haben sich forschend mit Bildern und Geschichte auseinandergesetzt.