MENU

DIE SOMMERGÄSTE
LAS VISITAS DEL VERANO

5632
18

DIE SOMMERGÄSTE
LAS VISITAS DEL VERANO

Ein Bilderbuch aus Uruguay von Matías Acosta

Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer

Inmitten einer kargen, flachen Landschaft vor einer Gebirgskette, dargestellt mit malerischen Mitteln und frottageähnlicher Wirkung, lebt ein Mann, einsam und gleichzeitig eins mit sich. Unter einem den Jahreszeiten entsprechend atmosphärisch gestimmten Himmel wohnt er in einem einfachen, mit Brettern beschlagenen Holzhaus. Ein stets aufgeblähter rot-weiß gestreifter Windsack und ein Hangar mit Tonnendach aus schon leicht rostigem Wellblech lassen erahnen, dass der Mann über Flugerfahrung verfügt.
Nachdem die ersten beiden Bilddoppelseiten uns ein Panorama auf die Landschaft eröffnen, wird unser Blick auf der Folgeseite mittels einer Nahansicht auf den Mann gerichtet, der uns aus dem Fenster direkt anzuschauen scheint. Wir lesen, dass der Sommer gerade begonnen hat und der Mann von lauten Rufen geweckt wird, die lautmalerisch im Bild erscheinen und durch die in der spanischen Sprache typische Setzung der Ausrufezeichen eine zusätzliche Rahmung erfahren. »¡ÄN-ONG! ¡ÄN-ONG!« Die Gänse steigen dem Mann buchstäblich wie bildhaft aufs Dach. Gar nicht einverstanden ist er anfänglich mit ihrem Besuch. Ein Dialog der Gesten zwischen neugieriger und erwartungsfreudiger Annäherung von Seiten der Gänse und abwehrender, drohender und scheuchender Gebärden des Mannes beginnt. Doch nichts hilft. Die Gänse bleiben und der Mann ergibt sich seinem Schicksal. Wir nehmen teil an einem unerwarteten Beziehungsaufbau zwischen Mensch und Tier, der sich von einem anfänglichen Gefühl der Bedrängnis bis hin zu einer innigen Freundschaft entwickelt. Bleibt es zuerst bei der Sicherstellung elementarer Bedürfnisse im Bild des Fütterns, geben sich der Mann und die Gänse in der Folge gemeinsam belebenden Sommerfreuden hin. Als fürsorgender Gastgeber stellt der Mann seinen Gästen sogar ein Planschbecken bereit und genießt gleichzeitig ihre Nähe, während er sich ein eigenes Fußbad gönnt. Die Zeit vergeht wie im Flug. »Auch der Herbst scheint dieses Jahr Flügel zu haben. Er kam viel zu früh«, heißt es im Buch. Und der Mann ahnt, was dieses für die wandernden Vögel bedeutet. »Der Mann wusste, dass der Abschied nahte.« Aber die Sommergäste wollen bleiben. Der Mann versucht alles, um seine Gäste vom Abflug zu überzeugen. Er steigt sogar auf eine Leiter und flattert auffordernd mit den Armen. Die Gänse bleiben und der Mann muss sich etwas einfallen lassen. »Er brauchte einen Plan.« Mittlerweile scheint der Herbst schon sehr nah, denn es regnet. Der Mann begibt sich in seinen Hangar, der in seiner höhlenartigen Anmutung wie ein spiritueller Rückzugsort wirkt, und beginnt an etwas Propellerartigem zu hantieren. Er wird dabei neugierig von den Gänsen beobachtet. Wieder draußen, sind die Kuppen der Gebirgskette im Hintergrund mittlerweile mit Schnee bedeckt. Für die Gänse wird es höchste Zeit weiterzuziehen! Der Mann trägt einen Helm in der Hand. Sein wehender Schal und der Windsack weisen ihm und seinen Gästen die Windrichtung. Eine Seite weitergeblättert, schiebt sich von rechts eine Propellermaschine ins Bild und kündigt den drängenden Abflug an. Der Mann startet seine eigenwillige Flug-Zeug-Konstruktion mit Pedalantrieb, hebt von der Erde ab und die Gänse folgen. Hatte Lilienthal einst von den Vögeln und ihren Flugkünsten gelernt, ist es hier umgekehrt. »Vielleicht war ein Freund alles, was sie brauchten, um zu fliegen«, kommentiert Acosta das Bild und katapultiert die Bilderbuchgeschichte auf diese Weise ins Metaphorische. Mensch und Tier wachsen in ihrer Beziehung zueinander über sich hinaus. Klar, dass der Mann seit diesem Erlebnis bereits im Frühling Futter und ein erfrischendes Bad für seine Sommergäste bereithält!

Matías Acosta
Die Sommergäste
Las visitas del verano
Ein Bilderbuch aus Uruguay

Baobab Books
Zweisprachig: Deutsch – Spanisch
Aus dem Spanischen übersetzt von Jochen Weber
48 Seiten, durchgehend farbig illustriert, Hardcover / 26 x 23 cm
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-907277-09-06
€ (D): 18,50 / € (A): 19,10 / CHF: 24,80

 

Anregungen für eine erweiterte ästhetische Rezeption des Bilderbuches

Das Bilderbuch thematisiert Einsamkeit jenseits des Defizitären und gleichzeitig Entwicklungspotentiale im Kontext der Beziehung zwischen Mensch und Tier. In Auseinandersetzung mit der Frage, was gerade Kinder an dem Bilderbuch »Die Sommergäste« von Mathías Acosta interessieren könnte, kommt eine weitere Ebene zum Tragen: die Wahrnehmung und Unterstützung von wandernden Tierarten. So beeindruckt die Art und Weise, wie der Mann die Gänse in ihrem Weiterziehen unterstützt. Die Aktion des Mannes, den lebensnotwendigen Abflug der Vögel durch eigenes Vorbild in Gang zu bringen und anzuleiten, ist beispielhaft. Welche anderen wandernden Tierarten gibt es und wie können wir uns für sie einsetzen? Angeregt von der Flug-Zeug-Bricolage im Bilderbuch ist die Frage, welche Erfindungen anderen Tierarten helfen könnten, ihre notwendigen Wanderungen einzuleiten, fortzusetzen und durchzuführen. Ein Blick auf die internationale Klimaschutzkarte hilft zu begreifen, dass die wandernden Tierarten sich nicht ausschließlich auf Vögel begrenzen, sondern ebenso Säugetiere, wie beispielsweise Wale, oder Kriechtiere, wie Schlangen, oder auch Insekten, wie etwa Schmetterlinge, inkludieren.
In einer Bilderbuchwerkstatt der Grundschule der Künste hat Elisa Bauer die Kinder eingeladen, gemeinsam ein Mapping wandernder Tierarten zu betrachten, das aus einer Karte der Internationalen Klimaschutzinitiative (IKI) hervorgeht. Ausgehend von der Frage, wie einzelne Tierarten auf ihren überlebensnotwendigen Wanderungen angesichts der Bedrohung durch Jagd sowie zunehmenden Rückgangs intakter Ökosysteme geschützt werden können, haben sich die Kinder in die jeweilige Situation ausgewählter Tiere eingefühlt, eingearbeitet und Möglichkeiten unterstützender Maßnahmen imaginiert. Entstanden sind Skizzen, Entwürfe und Modelle für Objekte und Mobile.
Um Schildkröten gefahrlos zu ermöglichen, die Straßen zu überqueren, hat Madita (11) zum Beispiel ein Fahrzeug entwickelt, mit Hilfe dessen sich Schildkröten Gänge unter der Erde graben können. Eine integrierte Schallschutzwand minimiert dabei störende Bohrgeräusche. Lore (9) baut spezielle Kopfhörer für Wale, die walfremde Signale filtern und die Säugetiere damit vor Desorientierung schützen. Schlangen sind nach wie vor Jagdobjekt wegen ihrer Haut, die für Accessoires wie Handtaschen und Gürtel verwendet wird. Die Spezialrutsche von Lucie (9) soll Schlangen einen sicheren Baumabgang im Regenwald ermöglichen. Die zunehmende Intensivierung landwirtschaftlicher Nutzung gefährdet auch Zwergmäuse. Aus diesem Grund hat Vicco (8) ein Laufradgefährt erfunden, das Mäusen ermöglicht, Trockengebiete schneller zu durchqueren. Ausgehend von der Gefährdung von Hammerhaien, hat Oskar (8) ein Unterwasserflugzeug konstruiert, das sie vor einem tödlichen Verfangen in Fischernetzen schützen soll.