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Jacominus Gainsboroughs Welt

Jacominus Gainsboroughs Welt
Zu den virtuosen Bilderbüchern von Rébecca Dautremer

Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer

Sei es das ganze Leben oder ein winziger Augenblick, sei es eine Verabredung zu zweit oder eine wunderbare Sache, immer geht es in den Bilderbüchern zu Jacominus Gainsborough von Rébecca Dautremer um das Fragile und Flüchtige des Lebens, um Momente der Begegnung und Beziehung, die sie Seite für Seite durch ihre Bilder und poetischen Erzählungen feiert. Im Grunde ist es das Thema der Zeit, das alle Bücher verbindet. Dautremer durchdringt dieses in ihren mannigfaltigen Facetten durch Bild und Text, aber auch durch die hochkomplexen wie kunstvollen Formate der Bücher.

So halten wir mit einer »winzig kleinen Sekunde« (2022) ein Leporello in den Händen, das uns nach Aufklappen von sieben Seitenflügeln mit einem über zwei Meter breiten Gemälde beschenkt und dessen Entstehungsprozess im zeichnerischen Stadium wir auf der Rückseite betrachten dürfen. 100 Protagonisten tümmeln sich in dem gigantischen farbenprächtigen Panorama. Ein paar dieser bemerkenswerten Mischwesen sind uns bereits aus dem »Stundenbuch des Jacominus Gainsborough« (2016) bekannt. Ein Begleitheft lässt uns einen liebevollen Blick auf jede einzelne Figur werfen und uns an ihren Geschichten teilhaben. So lernen wir zum Beispiel den »kleinen Martin« kennen, der auf einem Kastanienbaumast sitzt und bemerkt, wie sein Kinn zittert und ihm eine Träne kommt, oder Louisette Pascal, die sich nach ihrem Liebsten sehnt und deren hübscher neuer Hut durch einen Windstoß aus dem Fenster getragen wurde, oder Francisco Petarelle, der den unerwarteten Überblick auf das Gesamt-Geschehen aus dem Heißluftballon genießt. Wie gesagt, es sind sehr viele, wenn nicht unzählige, die in ein und derselben Sekunde Gemeinsames aber eben auch sehr Unterschiedliches erleben. Verführt die imposante Pluriszenerie im Bild zu flanieren, regt der Blick auf die einzelnen Protagonisten im »Begleitheft« an, sich auf ausgewählte Situationen zu fokussieren. Zu unserer eigenen Überraschung können wir auf diese Weise Szenen aus anderen Büchern wiederentdecken. So werden wir zum Beispiel an ein Ereignis aus dem »Stundenbuch« erinnert, als Jacominus in der Veranda die Treppe herunterfällt und sich das Bein derart verletzt, so dass er von nun an auf Lebenszeit auf eine Krücke angewiesen ist.

Mit dem Buchobjekt »Punkt 12« (2020) ist Rébecca Dautremer ein weiteres Meisterwerk gelungen, das uns über 100 gestanzte Buchseiten vertraut macht mit dem, was das Warten auf eine geliebte Person bedeuten kann. Mehr noch: Das Buch gibt uns die Gelegenheit, die Bilderbuchgeschichte auf besondere Weise mit unseren Augen zu durchdringen. Nach Dautremer lädt das Buch nämlich ein, uns zwischen den zartgliedrigen aufeinander geschichteten Seiten hin- und herzubewegen – wie uns danach ist – und dabei den Ort des Eintretens verlässlich immer wieder vorzufinden.
»Punkt 12« haben sich Jacominus und Sweety verabredet. Wenn das Treffen nicht pünktlich stattfindet, ist ein Wiedersehen bis auf Weiteres erst einmal nicht in Sicht. Denn Jacominus sticht für eine längere Reise in See. Doch das wissen wir zu Beginn der Bilderbuchgeschichte eigentlich noch nicht. Es gehört zur Inszenierung des Wartens, dass wir als Betrachtende im Diffusen bleiben. Erst auf den letzten Seiten, ab dem Moment, in dem das Treffen der beiden tatsächlich stattfindet, erfahren wir, auf wen der Erzähler gewartet hat: Auf Sweety! Und an Sweety ist auch der innere Monolog des Ich-Erzählers gerichtet – auf jeder der 100 Seiten. Das Antizipieren ihres Wegs zu ihm und möglichen Ereignissen dienen ihm dabei der steten Vergewisserung, dass das Abschiedstreffen tatsächlich stattfinden wird. Die Zahnräder auf dem Titelblatt visualisieren dabei die stete Bewegung der Hoffnung Jacominus‘ und symbolisieren gleichzeitig, dass für ein Gelingen der Verabredung eine glückliche Fügung vieler Einzelmomente notwendig ist, wie zum Beispiel, dass Sweety den Zeitpunkt des Treffens nicht vergisst: Konkret, dass sie sich auf ihrem Weg von ihrem Garten durch die Stadt bis zum Kai im Hafen von nichts und niemandem ablenken lässt, nicht von Herrn Tedesco, der immer für eine kleine Plauderei aufgelegt ist, nicht von den Kindern auf ihrem Weg in die Schule, nicht von dem Zirkus, der seit gestern in der Stadt angekommen ist und allgemeine Aufregung schürt, nicht von dem Duft des frischen Brots in der Boulangerie noch von dem »Herzen brechenden« Bäcker – von nichts und niemandem.

Geht es in dem »Stundenbuch des Jacominus Gainsborough« um ein »Leben, das sich lohnte gelebt zu werden« (J. G.), steht in der Bilderbuchgeschichte »Eine wunderbare Sache« (2024) die Erinnerung an ein gemeinsames Leben im Mittelpunkt. Sind es im Stundenbuch die Porträts Jacominus‘ aus seinen unterschiedlichen Lebensphasen, die Rébecca Dautremer zwischen die monoszenischen Bilder und Panoramen einflicht, können wir in ihrem aktuellen Bilderbuch immer wieder Doppelporträts von Jacominus und seinem Freund Polikarp betrachten. Ähnlich wie im Stundenbuch setzt Dautremer diese zwischen die Erinnerungsbilder und choreografiert auf diese Weise das surreale Zusammenspiel von Gegenwart und Vergangenheit in der Erinnerung, in der die Perspektiven durchaus einmal durcheinanderwirbeln und Schwindelgefühle auslösen können. Erinnerungen sind eben »nicht immer ganz klar. Manchmal sind sie ein wenig verschwommen, ein wenig ungenau. […] auch ein wenig bizarr«, wie Rébecca Dautremer in ihrem Vorwort festhält. Die beiden Freunde, nachdenklich auf beide Hände gestützt, grübeln in immer wieder neuen Positionen nach der wunderbaren Sache. Was kann diese wunderbare Sache sein, die in ihrer Erinnerung vergraben liegt? Ein »armseliges Krabbeltier […], genauso edel wie der majestätischste Steinadler«, das »wunderbare Café« mit dem »Erdbeersaft des Glücks«, ein fröhliches Lied, das Polikarp und Jacominus auf dem Schiff kurz vor ihrer Abfahrt gesungen haben, der beste Witz der Welt oder das kleine Geheimnis, das Béatrix’s Apfelkuchen so ausgesprochen gelungen macht? Nichts von alledem kann die kleine Glasmurmel toppen, die Polikarp und Jacominus in einem kleinen Spalt in einer bemoosten Mauer im hinteren Teil des Gartens verborgen haben. Denn, obwohl die Murmel in Jacominus‘ und Polikarps Kindertagen der Auslöser für Jacominus Sturz von der Verandatreppe und anschließende Gehbehinderung war, steht das unscheinbare Ding für so viel mehr – letztlich für das ganze Leben und die vielen Erinnerungen, die die beiden teilen.

Rébecca Dautremer
Eine winzig kleine Sekunde
Jacominus Gainsborough
Aus dem Französischen von Andrea Spingler
Suhrkamp / Insel 2022
Fester Einband, 35 Seiten, farbig illustriert, 31,9 x (2 x) 42,5 cm
im Leporelloformat mit 217 cm Breite
ISBN: 978-3-458-17991-7
€ (D): 29,90 / € (A): 30,80 / CHF: 43,90

Rébecca Dautremer
Punkt 12
Jacominus Gainsborough
Aus dem Französischen von Andrea Spingler
Suhrkamp / Insel 2020
Fester Einband, 212 Seiten, durchgehend farbig illustriert,
22,4 x 4 x 31,6 cm, gestanzte Buchseiten
ISBN: 978-3-458-17895-8
€ (D): 49,95 / € (A): 52,50 / CHF: 69,90

Rébecca Dautremer
Eine wunderbare Sache
Jacominus Gainsborough
Aus dem Französischen von Andrea Spingler
Suhrkamp / Insel 2024
Fester Einband, 56 Seiten, durchgehend farbig, 29,3 x 29,3 cm
ISBN: 978-3-458-64445-3
€ (D): 24 / € (A): 25,50 / CHF: 35,90

Zum »Stundenbuch des Jacominus Gainsborough« von Rébecca Dautremer
https://bilderbuchkunst.de/portfolio/das-leben-leben/

https://bilderbuchkunst.de/portfolio/ein-workshop-zum-bilderbuch-das-stundenbuch-des-jacominus-gainsborough/