Nacherzählt von Mac Barnett und illustriert von Jon Klassen
Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer
Durchführung der Bilderbuchwerkstatt: Helen Naujoks, Elisa Bauer, Nadja Hillers, Ines Saydan
Anders als erwartet
Ein Troll lebt hungrig unter einer Brücke und ein Ziegenbock könnte ein gefundenes Fressen sein. Denn: „Ziegen sind meine Lieblingsspeise. Ich fresse sie auf meine Weise: Ziege an Schneckentunke. Ziege sautiert mit Unke, Ziege mit Ziegenkäse …“, lässt Mac Barnett den grollenden Protagonisten sprechen. Und wieder sind es die Blickbewegungen und -begegnungen Jon Klassens, die, wie aufs Papier gezaubert, die Dramaturgie seismographisch begleiten: mal erwartungsvoll und entschlossen, und dann wieder erschrocken, … das Spektrum, das Jon Klassen mit minimalen Veränderungen der Pupillenform auf dem oder besser im „Kasten“ hat, ist unendlich. Sein künstlerischer Background in der Animation ist dabei unverkennbar. So sind es scheinbare Kleinigkeiten, wie ein aufgestelltes Haar, eine eingeknickte Blume oder eben eine kaum merkliche Verlagerung oder Aufweitung der Pupille, die die Sequenzen mit Spannung aufladen. Wie in früheren Bilderbüchern findet auch diese Geschichte, die auf einem alten norwegischen Märchen beruht, unter „freiem“ Himmel statt. Klassen beherrscht es dabei meisterhaft, diesen in seinen aquarellierten Zeichnungen atmosphärisch einzustimmen, sei es, indem er diesen mit Licht durchflutet oder an anderer Stelle durch zarte rosafarbene Schimmer mit einem Hauch von Abendrot versieht. Aber worum geht es in dem von Mac Barnett pointiert nacherzählten und von Jon Klassen zugespitzt in Szene gesetzten Märchen? Die parabelhafte Geschichte ist simpel und dennoch voller Poesie. Die Begegnungen und Dialoge zwischen Troll und Ziegenböcken muten komisch an und sind gleichzeitig in der Lehre gnadenlos. „,Klapperklapper, trappeltrappel‘“, kündigt die Lautmalerei im Laufe der Geschichte gleich dreimal die Ankunft eines Ziegenbocks an. Und dreimal schaffen es die Ziegen, einer nach der anderen, den Troll zu überlisten und über die Brücke auf die grüne Wiese zu traben. Ihre List liegt dabei in dem Wissen um ihren verlässlichen und vertrauensvollen Zusammenhalt als Geschwister. Sind wir es aus der Erfahrung gewohnt, in der Not die vermeintlich Stärksten vorzuschicken, ist es hier genau umgekehrt. Der lang ersehnte „fette Braten“, der dritte Ziegenbock namens Zack in persona, betritt erst zum Schluss die Bühne und nimmt dabei den Troll sogar auf die Hörner! Damit nicht genug, stürzt er den Widersacher von der Brücke in die Stromschnellen. Was mit ihm geschah, ist nicht bekannt, denn nachdem dieser in den „großen“ Wasserfall hinabfällt, erfasst ihn der „riesige“ und schließlich der „wirklich unfassbare Wasserfall“. Und wie eine Bekräftigung seines Untergangs drängt die doppelseitenfüllende Gischt, aus der nur noch die Beine des Bösen, zaghaft und winzig klein, um ihr Leben zappeln, Bild und Text an den Rand. Wo der Troll schließlich gelandet ist, vermag der auktoriale Erzähler nicht zu sagen. „Soweit hinunter bin ich noch nie gegangen.“ Oder ist er nur noch nicht so tief gefallen? Wie auch immer! Auch der dritte Ziegenbock hat die saftige Wiese erreicht und labt sich an dieser gemeinsam mit seinen Brüdern im Abendrot. Mit der besänftigenden Einladung, die Ziegenböcke zu besuchen und ihnen „Guten Tag“ zu sagen endet die fulminante Bilderbuchgeschichte und lässt uns gleichzeitig verblüfft fragend zurück: Wir müssten nur über die Brücke gehen?
Mac Barnett / Jon Klassen (Ill.)
Drei Ziegenböcke namens Zack
Aus dem Amerikanischen von Thomas Bodmer
NordSüd 2023
48 Seiten, durchgehend farbig illustriert,
Hardcover, 21,5 x 28 cm
ISBN: 978-3-314-10650-7
€ (D) 18,00 / € (A) 18,50 / CHF 23.90
Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption
Die Blickbeziehungen in den Bildern Jon Klassens sind für die Geschichte tragend. Wie wäre es, die Geschichte durch entsprechend gestaltete ‚Augenblicke‘ an einem Ort in deiner Nähe zu inszenieren und nachzuerzählen? Die Geschichte hätte drei Akte, einen für die Begegnung zwischen Troll und kleinem Ziegenbock, einen weiteren für das Aufeinandertreffen von Troll und mittelgroßem Ziegenbock, und schließlich einen für den unerwarteten Zusammenstoß des Trolls mit dem großen Ziegenbock und seinen ungeheuerlichen Folgen. Du brauchst dafür nur mit einem schwarzen Textmarker die Augenpaare auf selbstklebendes weißes Papier aufzumalen, die Augen im Anschluss auszuschneiden und am ausgewählten Ort zu platzieren* – jeweils die Augen des Trolls und das Augenpaar eines Ziegenbocks, der durch seinen Blick auf den des Trolls antwortet. Du könntest die Größe der Augenpaare entsprechend der Größe des jeweiligen Ziegenbocks variieren und auf diese Weise die Spannung steigern. Bevor du die ‚Augenblicke‘ gestaltest, könntest du auf einem großen Forschungs- und Entwurfsblatt die einzelnen ‚Augenblicke‘ von Troll und Ziegenböcken auflisten, gegenüberstellen und Varianten entwerfen. Wie blicken die Augen des Trolls, die lauschen und warten, und wie die Augen des jeweiligen Ziegenbocks, die noch nichts ahnen? Wie sind die Pupillen des Trolls geformt und gestaltet, die vor Hunger schreien? Und wie die des jeweiligen Ziegenbocks, der sich angstvoll erschreckt? Sind die Augen geschlossen oder aufgerissen? Wie blicken die Augen des Trolls kurz vor dem Angriff? Sind sie zusammengekniffen? Schauen sie wie durch Schlitze? Wie verändert sich der ‚Augenblick‘ des jeweiligen Ziegenbocks durch seine List? Wie wägen sich die Augen des Trolls in einem Vorteil oder wie schauen sie auf eingebildete und selbstverliebte Weise?
Aber gehen wir noch einmal einen Schritt zurück! Wo wäre ein Ort, an dem du die Geschichte inszenieren und nacherzählen könntest? Naheliegend wäre sicherlich nach einer Brücke Ausschau zu halten. Was aber, wenn es keine Brücke in deiner Nähe gibt? Könntest du dir vorstellen, die Geschichte mit Hilfe eines Regals oder besser an einem Regal entlang zu erzählen? Oder mit Hilfe einer Treppe, das heißt, die Augenpaare Treppenstufe für Treppenstufe zu platzieren? Und schließlich: Ich bin gespannt auf deine ‚Augenblick-Erfindungen‘ für die letzte Szene, als der Troll den Wasserfall hinunterstürzt, den ‚großen‘, den ‚riesigen‘ und dann den ‚wirklich unfassbaren Wasserfall‘.
* Eine Alternative ist, die Augenpaare mit weißem und schwarzem Knetgummi zu modellieren. Wähle, was dir lieber ist bzw. welches Material für dich besser in der Hand liegt. 😉