MENU

Wolkentiere und Quadrat

2626
8

Formenspiele und die unaufhörliche Suche nach Identität

Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer

Durchführung der Bilderbuchwerkstatt: Elisa Bauer und Helen Naujoks

Die Rede ist von einer Wolke und von spielerischen Experimenten. Es heißt, dass sie über dem atlantischen Ozean lebte, aber manchmal auch gern über Island. Der Wolke gefiel ihr Leben, und dieses nicht nur, weil sie vom Himmel eine wunderbare Aussicht hatte. Eine besondere Freude bereitete der Wolke, dass sie ihre Form verändern konnte. Sie konnte sich nicht nur in Cumulus- oder Schäfchenwolken verwandeln, sondern in jede nur erdenkliche Form: »Vom einfachen Tannenbaum über einen Gugelhupf bis hin zum endoplasmatischen Retikulum«, erzählt Anna Gusella. Diese Transformationsprozesse inszeniert die Künstlerin mit Kombinationen pastellfarbener Zeichnungen und druckgrafischen Elementen. Die Bilder wirken wie eine Liebeserklärung an das Formenspiel, mit einem knalligen Rot oder dunklen Blautönen aufgemischt wird. »Die Form des Quadrats hatte es ihr besonders angetan« heißt es auf einer Seite, auf der die Verwandlung von Fliegenpilzschirmen in Gestalt von Dreiecken den aus dem Laderaum eines LKWs in den Himmel schwebenden Quadraten weicht. Sogar Menschen bemerkten die Wolke in ihren Varianten als Quadrat und rätselten, was diese bedeuten könnten. Als die Menschen der Wolke aufdringlich zu nahekamen, schwebte sie einfach davon und ging ihrer Lieblingsbeschäftigung nach und träumte, getarnt als »klassisches Schäfchen«, von wilden Kaninchen und Seegurken. Dass das Träumen nicht folgenlos bleiben, vielmehr das Leben der Wolke ganz und gar auf den Kopf stellen sollte, zeigt ein wilder Strudelstrich, in dem das sanfte Himmelblau von einem dunklen Tiefblau gefangen wird. Zwar schieben sich für einen Moment ein Segelboot und »bunte Musik« auf rosa Himmelsschlieren ins Bild, doch wird der Traum von Seite zu Seite fester und hartnäckiger und kündigt Veränderung an. Als der Wind die Wolke schließlich in eine unbekannte Gegend fortgetragen hatte, ist es soweit. Trotz »scharfer Winde«, »unheimlicher Tiere« und »seltsamer Kräfte«, ließ sich die Wolke auf all das, was ihr geschah, neugierig ein. Begriffe wie »Verzerren« und »Verformen«, »Verdüstern« und »Verblassen« relativieren die letzte Sicherheit, die das sanfte Himmelblau der Wolke gegeben hatte, und zerberstet diese unter einer roten Pinselbrunst unwiderruflich. Auf einmal ist die Wolke keine Wolke mehr und wir sehen uns einer in der seichten Meeresgischt tauchenden Möwe gegenüber. Was sie dort wohl suchen und finden mag?
Anna Gusella gelingt mit ihrem Bilderbuch nicht nur eine luftige Geschichte von der Lust auf Spiel und Verwandlung, sondern auch eine bildgewaltige Parabel über die unaufhörliche Suche nach Identität. Wem ist dieses Suchen näher als heranwachsenden Kindern am Übergang zum Erwachsenenalter?

Anna Gusella
Wolkentiere und Quadrat

Kunstanstifter 2023
84 Seiten, durchgehend farbig illustriert,
Hardcover 
17,5 x 25,2 cm
ISBN: 978-3-948743-27-7
€ (D) 25,00 / € (A) 25,70 / CHF 36,90

Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption

Das Bilderbuch regt an, sich im Formenspiel zu üben und sich dabei von der eigenen Imaginationsfähigkeit treiben zu lassen. Papierbahnen mit unterschiedlichen Blautönen sowie weißem Quarzsand auf dem Boden können eine Grundlage für das Formenspiel bilden, das mit den Händen durch den Sand fahrend realisiert wird. Spiegelfolie an der Decke bringt die Metamorphosen in den Himmel. Die Kinder haben durch die Spiegelbilder, die sie auf dem Rücken liegend betrachten, die Möglichkeit in ein Nachsinnen und Philosophieren über existentielle Fragen zu kommen: Wer bin ich? Wer will ich sein? Wer kann ich sein?