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PARTIR

1842
9

Durch Bilder – Zwischen Abschied und Neubeginn

Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer

Durchführung der Bilderbuchwerkstatt: Elisa Bauer, Helen Naujoks und Ines Saydan

»Partir« von Anders Holmer ist ein Buch ohne Worte, das die Wirksamkeit von Bildern feiert. Es handelt sich um ein Buch zum und vom Abschied, worauf der schwedische Originaltitel »Farväl« verweist. Folgen wir dem Kind von Seite zu Seite, haben wir teil, wie es sich auf den Weg macht, den gewohnten Alltag verlässt, in fantastische Welten vordringt und am Ende gestärkt zurückkehrt. Der französische Titel »Partir« ist dabei nicht nur als Weggehen zu übersetzen, sondern ist darüber hinaus mit Reise konnotiert. Wie aber werden Abschied und Reise in dem Bilderbuch von Anders Holmer miteinander verwoben? Auf der ersten Doppelseite blicken wir über einen Schnitt in eine Wohnung. In der Mitte sitzt die Mutter in einem Ohrensessel und erhält gerade eine Infusion. Ein Bild an der Wand zeigt, wie die noch langhaarige Mutter fröhlich mit ihrem Kind spielt, und erinnert auf diese Weise an vergangene, noch unbeschwerte, Zeiten. Das Kind sitzt auf der rechten Seite des Wohnzimmers an einem Tisch. Es zeichnet oder schreibt. Auf der linken Seite widmet sich eine ältere Frau, vielleicht die Großmutter, den Topfblumen. Die Folgeseite zeigt eine Sequenz, in der das Kind mit gesenktem Kopf vor seiner Mutter steht. Die Mutter hat die Hände auf seine Schultern gelegt, als wolle sie es trösten. Ist dieses Bild als Vorbote eines nahenden Abschieds zu deuten? Im Moment noch nicht bereit für Trost, macht sich das Kind auf, einen eigenen Weg zu finden. Das Kinderzimmer hat alles, was es dafür braucht: eine Eisenbahn, eine Trompete, einen Kescher, Technikbausätze, Experimentiermaterial, Bilder, Stofftiere, ein Mobile und vieles mehr. In Stiefel und Umhang geschlüpft, einen Hut und eine Bärenmaske aufgesetzt, verwandelt sich das Kind in eine Bären-Traumfigur. Auf einem Stuhl am Fenster stehend wird das Kind gebannt von der Hauskatze beobachtet. Drei Viertel der Doppelseite sind weiß und leer gehalten. Lediglich zwei Schwalben, die an die Vögel des Mobiles erinnern, kreisen und laden ein, aus seinem Alltag herauszutreten und eine Reise zu beginnen. Den Kescher geschultert, folgt der Bär der Katze über eine Art Zugbrücke in den Rumpf eines Zeppelins, welches wir bereits auf einem Bild im Kinderzimmer wahrnehmen konnten. Im Zeppelin steht der leere Sessel der Mutter und der ›Bär‹ ist auf beeindruckende Weise in der Lage, die Maschinerie, deren Zahnräder aus den Technikbausätzen des Kindes stammen könnten, zu steuern. So reisen Bär und Katze weiter. Dem Sternenhimmel nah, tauchen sie durch ein Wolkenmeer immer weiter in fantastische Welten ein.
Das Besondere ist dabei, dass sich diese Welten aus den Alltagsdingen des Kindes konstituieren, was nicht nur ein Beweis für seine Imaginationsfähigkeit ist, sondern auch die Gewissheit vermittelt, dass es einen Rückweg geben wird. Und so ist es dann auch. Nachdem das Kind, immer noch in Gestalt eines Bären, in einem Labor aus rubinrotem Edelstein eine Farbe generiert und mit einem »Herzensbild« nach Hause zurückkehrt, streift es seine Verkleidung ab und umarmt seine Mutter. Mit »Partir« ist Anders Holmer damit nicht nur ein buchstäblich fantastisches Buch von Abschied und Trauer gelungen, sondern darüber hinaus ein grandioses Schaustück, das Mut macht, mit Hilfe innerer Bilder über sich selbst hinauszuwachsen.

Ein weiterer Beitrag zum Bilderbuch ist in der Publikation »Verwundbare Kindheiten. Eine Anthologie zeitgenössischer Bilderbuchkunst« erschienen. Hier geht es zur Publikation mit weiteren spannenden Bilderbüchern:
https://wamiki.de/shop/buecher/verwundbare-kindheiten-eine-anthologie-zeitgenoessischer-bilderbuchkunst/

Anders Holmer

Partir

Versand Sud Jeunesse 2021
56 Seiten, durchgehend farbig illustriert,
Hardcover 25,1×31,7 cm
ISBN: 978-2-930938-32-5
€ (D) 16,90 / CHF: 25.90

Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption

Das Bilderbuch erzählt nicht nur einen individuellen bewegenden Trauerprozess, sondern steht für eine ritualisierte Ermächtigung und einen damit verbundenen Übergang vom Alltag in fantastische Welten.
 Medium für diesen Übergang ist eine Bärenmaske. Für eine erweiterte ästhetische Rezeption wäre folgendes Setting vorstellbar: Die Kinder katapultieren ihr Lieblingsspielzeug in fantastische Welten. Dafür transformieren sie ihr Spielzeug zeichnerisch. Als anregender Hintergrund können Hellgrau-Weiß-Kopien von Landschaften und Stadtbildern dienen, auf denen die Kinder ihre Spielzeugtransformationen platzieren. Als Impuls für die Imagination zu Beginn werden die Kinder eingeladen, sich eine Bärenmaske aufzusetzen und sich durch ein Labyrinth, gebaut z.B. aus Tischen und Tüchern, zu bewegen.