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Vom Aufbrechen und Ankommen

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Der Gipfelstürmer von Pierre Zensius

Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer

Es gibt Menschen, die sich leidenschaftlich mit einem Wunsch oder einem Projekt verbunden fühlen und dabei nicht müde werden ihren Traum zu realisieren. So jemand war auch Horace Bénédict de Saussure, ein Schweizer Naturforscher und Geologe des 18. Jahrhunderts, von dem das Bilderbuch »Der Gipfelstürmer« erzählt. Er wollte den Mont Blanc, den höchsten Berg der Alpen, besteigen und war von dieser Idee wie besessen. In seinen Schriften, dem »Journal de l’ascension du Mont Blanc« sowie den »Voyages dans les Alpes« hält er seine Expeditionen zum Gipfel fest. Sie sind die Grundlage für das Bilderbuch des französischen Animations-Künstlers Pierre Zensius, in dem er die Geschichte der Erstbesteigung des »weißen Giganten« im Jahr 1787 brilliant in Bild und Text festhält und diese dabei durch humoreske und absurde Einlassungen jenseits einer Mythifizierung Saussures erzählt. So werden die an der Expedition beteiligten Alpinisten, laut Vorwort 18 an der Zahl, sowie dem berühmten Jacques Balmat, unter dessen Führung Saussure die Expedition durchführte, als Hofstaat karikiert. Dann können wir gleich auf der ersten Seite noch einen Hund entdecken, der die Expeditionsgruppe begleitet. Nichts an Kleidung und Equipment erinnert an eine professionelle alpine Expedition. Vielmehr werden Barockschuhe mit Schnallen, Gehröcke und Rokokko-Sonnenschirmchen getragen sowie sperrige, unhandliche Truhen und Leitern, ein Vogel im Käfig und eine Weingallone geschultert. Und trotz der für eine Forschungsreise in eisige Höhen kontraproduktiv anmutenden Aufmachung und Ausrüstung, wirkt das Team der einer Bergbesteigung inhärenten Dramatik gewappnet. Von Etappe zu Etappe lassen uns die Zeichnungen an ihrem Aufstieg teilhaben und in die alpine Landschaft eintauchen. Die poetische Erzählung aus der Ich-Perspektive lässt mitschwingen und nimmt uns mit in die eisigen Höhen: »Eine letzte Wand erhob sich vor uns, steiler noch als alle zuvor. Was uns dort oben erwarten würde?«, lesen wir zum Beispiel. Und weiter: »Die Luft wurde immer dünner, das Atmen fiel uns schwer.« Und irgendwann sind wir auch als Außenstehende – vielleicht sogar in eine warme Decke gehüllt – die Bilder betrachtend, mittendrin, inszeniert Zensius doch schließlich das weiße Bergmassiv in all seinen gefahrvollen Facetten: markante Felsklötze aus Granit mit steilen Wänden, in der Höhe teilweise mit Schnee bedeckt sowie gletscherartige Eismassen. Saussure schafft es tatsächlich diese über den Wolken trotzende Höhe zu bezwingen. So können wir lesen und aufatmen: »Dann, endlich, wurde der Hang unter meinen Pfoten flacher … Wir waren am Ziel! Wir standen auf dem Gipfel dieser gigantischen Kuppel aus Schnee und Eis.« Und spätestens ab diesem Moment wird klar, dass der Hund in dieser Geschichte mehr ist als nur ein treuer Begleiter …

Pierre Zenzius
Der Gipfelstürmer
Aus dem Französischen von Ebi Naumann
Aladin 2020
40 Seiten, durchgängig farbig illustriert
Hardcover, 22.6 x 0.9 x 31.9 cm
ISBN: 978-3-848-90171-5
€ (D): 15,00 / € (A): 15,50

Anregungen für eine erweiterte ästhetische Rezeption

In der Bilderbuchwerkstatt der grund_schule der künste werden nicht nur Bilderbücher gemeinsam mit Kindern betrachtet, sondern darüber hinaus Impulse für eine erweiterte Rezeption aus der Bilderbuchkunst heraus erarbeitet. Aufgrund der Maßnahmen gegen Covid-19 fand die Bilderbuchwerkstatt zu dem Bilderbuch »Der Gipfelstürmer« im Home Office statt. Ich danke Ida, Lena, Lucie Ole, Pauline und Una für ihre wertvollen Zugänge zu dem Buch. Besonders bewegt haben mich ihre Argumente für die Sinnhaftigkeit der Ausrüstung der Expeditionsgruppe. Ich verstehe nun, weshalb ein barocker Schnallenschuh mit hohem Absatz auf einer derartigen Expedition Sinn macht. Wie mit einem Hammer lasse sich mit diesem Schuh ein Loch in das Gletschereis schlagen und bei dem steilen Anstieg »Halt gewinnen«.

Vor diesem Hintergrund schlage ich für eine erweiterte ästhetische Rezeption vor, eine Liste mit all den Ausrüstungsgegenständen, sei es Material oder Kleidung, anzufertigen und in der Folge aufzuschreiben und zu zeichnen, was all diese Dinge im Rahmen der Bergbesteigung können. Und vielleicht lässt sich auf diese Weise auch ein neuartiges Lehrbuch für das Bergsteigen entwickeln!