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Einer von vielen? Zur Geschichte eines Kanarienvogels

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»189« von Dieter Böge und Elsa Klever (Ill.)

Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer

Die Bilderbuchwerkstatt der grund_schule der künste musste angesichts der Maßnahmen gegen Covid-19 per Videokonferenz im sogenannten »Home Office« stattfinden. Um so mehr danke ich Ada, Ida, Lucie, Una und Vicco für das gemeinsame Betrachten des Bilderbuches, das mir unverzichtbare Zugänge geschenkt hat.

»Dies ist die Geschichte einer langen Reise, aber ich werde sie so kurz wie möglich erzählen, weil das Ende ganz schön ist.« Mit diesen Worten setzt die Bilderbuchgeschichte von Dieter Böge und Elsa Klever ein und verführt uns, sofort die letzten Seiten aufzuschlagen und von hinten zu beginnen! Am Ende des Buches entdecken wir eine Doppelseite Kanarienvögel. Sind es wirklich 189 Stück? Und jeder Vogel ein Unikat? Nach wiederholter und eingehender Betrachtung ist kein doppeltes Exemplar zu entdecken. Und selbst wenn sich eine Kopie andeutet, ist diese Anmutung schnell entkräftet. Das Gefieder, die Haltung, der Blick – immer ein Hauch anders. Blättern wir weiter zurück, stöbern wir in einem sogenannten Kanarienvogelgeschichtlichen Nachwort. Diesem Begriff muss man erst einmal nachspüren. Auf alle Fälle wird nach dem Lesen und Betrachten des Nachwortes klar, dass Kanarienvögel es verdient haben, gewürdigt zu werden. Was für eine Geschichte und wie leidvoll: aus ihrer Heimat entrissen, ihrer Freiheit beraubt und eingesperrt, instrumentalisiert und verkauft. Und trotz allem haben sich diese besonderen Vögel etwas bewahrt: ihr Hörvermögen und ihre Stimme. Und von dieser besonderen Fähigkeit erzählt die Geschichte und bietet den Kindern Zugänge zu einem kulturwissenschaftlichen Wissen auf den Ebenen Erzählung, Karte sowie Fachbuch. Blättern wir nach vorn. Irgendwann vor langer Zeit, als alle Bewohner des Harzes noch im Bergbau tätig waren und sich ihr Zubrot durch die Zucht von Kanarienvögeln verdienten, beginnt die Geschichte.
Friedlich wirkt die Welt, in der der Protagonist in seinem Käfig lebt: Eine Kirche und weniger als eine Handvoll Häuser im Fachwerkstil. Die strahlenden kräftigen Farben der einführenden Bilder stützen die Idylle. Die Vielfalt der Bäume im sonnendurchfluteten Mischwald der Mittelgebirgslandschaft lassen keine Not erahnen. Nach dem Blättern auf die folgende Seite wird klar, dass das Gefühl trügt. Wir blicken unter Tage. Die Bewohner des Harzes fristeten einen harten Alltag in der Grube. Tief unter der Erdoberfläche entbehrten sie nicht nur das lebensnotwendige Sonnenlicht sondern mussten sich permanent in Lebensgefahr wähnen. Die Kanarienvögel, die sie in ihren Käfigen in die Tiefe begleiteten, waren ihr Schutz. Hörten die Vögel auf zu singen, war dieses ein Zeichen dafür, dass die Atemluft knapp werden würde und die Bergleute den Stollen schnellstens verlassen müssten. Der Kanarienvogel, von dem die Geschichte erzählt, war ebenfalls tagsüber meistens unter Tage. Am Abend öffneten seine Menschen, wie es bezeichnender Weise aus personaler Erzählperspektive in der Geschichte heißt, die Käfigtür und erfreuten sich an seinem Gesang. Die Bilder machen immer wieder deutlich, dass der Kanarienvogel viel zu erzählen hat. Dass er weiß, wovon er singt, vermitteln die Mappings, die durch Elsa Klevers Hand sprechblasenähnlich auf die Bilderbuchseiten »strömen«. Details aus der auditiv wahrgenommenen Lebenswelt, wunderbar einfühlsam von Dieter Böge beschrieben, erscheinen als visuelle Transformation des Gehörten nebeneinander. Gerade in Bezug auf die feinsinnige Vermittlung der besonderen Fähigkeiten des Kanarienvogels zeigen sich der Autor und die Illustratorin als perfekt eingespieltes Team, die Erzähltes ins Bild setzen und umgekehrt, ohne dass das jeweilige Medium als bloße Übersetzung funktionalisiert wird. Vielmehr schlagen sie mit ihrer Bilderbuchästhetik vor, das unvergleichliche Hörvermögen des Kanarienvogels, das einen Erfahrungsaustausch im Gesang sucht, durch Klang-Bilder zu visualisieren. Nichts bleibt, wie es ist. Die Folgeseite kündigt durch den Regen und den Austausch warmer durch kalte Farben nicht nur einen Wetterwechsel an. Auf der rechten Seite kommt eine Hand ins Bild und »legt ein dünnes Tuch über den Käfig«. Da die Hand keine für die Bergbauarbeit charakteristischen schwarzen Rußspuren aufweist, wie auf einer vorangegangenen Seite beispielsweise abgebildet, könnte sie die eines Fremden sein. Und tatsächlich, der Kanarienvogel wird verkauft und verlässt in dem Transportkäfig auf dem Rücken eines Vogelhändlers gemeinsam mit 188 weiteren Kanarienvögeln die Heimat. »Jeder sitzt in seinem eigenen kleinen Käfig, das Licht ist grau unter der Leinwandhülle, sie hören den Kies unter den Stiefeln des Händlers und bei jedem Schritt schwankt das Gestell nach links und nach rechts. Die Käfigleisten reiben aneinander und die dünnen Gitterstäbe knirschen leise, aber sie sind stabil genug, um nicht zu zerbrechen.« Das Singen der Vögel wird in Anbetracht der als unsicher erlebten Zukunft verhaltener und die Sprechblasen entsprechend kleiner. Nach einer Nacht in einer Herberge geht die Reise mit einem Pferdewagen weiter. Der Vogel macht jedoch keinen unzufriedenen Eindruck. Er »hört einen Specht im Wald trommeln und, etwas weiter entfernt, den Ruf des Kuckucks.« Eindrücke, die er aus seiner Heimat kennt. Doch dann kommt der Transport an einem Bahnhof an. Das anfänglich gelüftete Laken, um nach den Vögeln zu sehen, bindet der Vogelhändler schnell wieder zurück, als »eine Lokomotive dampft und zischt […] Eine Trillerpfeife kreischt, Türen werden krachend geschlossen und der Zug setzt sich in Bewegung Tatammtamm, Tatammtamm, Tatammtamm.« An einem Hafen soll Reise mit dem Schiff fortgeführt werden. Fremde Tiere, alle ebenfalls eingesperrt in Käfige, stehen gemeinsam mit den Kanarienvögeln für die Verladung bereit. Als der Händler einen verrutschten Käfig geradezurücken versucht, macht die Königin der Meere, eine Möwe, ihm einen Strich durch die Rechnung, »schreit, stürzt aus dem Himmel, ergreift den Käfig mit unserem Kanarienvogel und reißt ihn mit sich in die Höhe. […] Über dem Hafenbecken öffnet sie ihre Klauen, der kleine hölzerne Käfig landet spritzend im Wasser und schwimmt mit offener Tür auf den Wellen. Der Kanarienvogel fliegt heraus« und setzt sich oben auf den Käfig. Ein Matrose zieht den Vogel aus dem Wasser und bringt ihn zurück zu seinem Händler. Beim Betrachten und Lesen dieser Stelle stockt einem der Atem, hätte der Vogel es doch fast in die Freiheit geschafft oder aber den Tod erlitten. So ist der rettende Auftritt des Matrosen als Vorbote eines zukünftig geborgenen Zuhauses zu verstehen. Hält dieser, mit Motiven seines Lebens über und über tätowiert, den Vogel nicht nur in seiner Hand, sondern seine weitere Hand schützend über ihn. Die Fahrt mit dem Ozeandampfer über den Atlantik dauert acht Tage. Angekommen in New York werden sie in einer fremden Sprache begrüßt und an weitere Händler übergeben. Unser Kanarienvogel bezieht einen neuen Käfig »im Schaufenster einer Zoohandlung«. Er wird verkauft und hat Glück. »An der Haustür wartet ein Mädchen.« Sie bringt unseren Kanarienvogel in ihr Zimmer, wo bereits ein neuer großer Vogelkäfig aufgebaut ist. Die Tür des Käfigs steht offen und oben auf dem Käfig sitzt bereits ein Vogel. Als er anfängt zu singen, weiß unser Vogel, dass er das Lied »nur an einem einzigen Ort auf der Welt gelernt haben kann.« Und schauen wir uns das Mapping der fast die Doppelseite füllende Sprechblase an, wird klar, dass er nicht nur an demselben Ort wie unser Kanarienvogel zu Hause war, sondern auch den gleichen Weg genommen hat und damit, im Sinne eines Fundaments für zukünftiges Beisammenseins, Erfahrung teilt.

Dieter Böge, Elsa Klever
189
Aladin 2020
48 Seiten, durchgängig farbig illustriert
Hardcover, 25 x 0.9 x 31.9 cm
ISBN: 978-3-848-90179-1
€ (D): 17,00 / € (A): 17,50 / CHF: 25.90

Anregungen für eine erweiterte ästhetische Rezeption des Bilderbuches

In der Bilderbuchwerkstatt der grund_schule der künste werden nicht nur Bilderbücher gemeinsam mit Kindern betrachtet, sondern darüber hinaus Impulse für eine erweiterte Rezeption aus der Bilderbuchkunst erarbeitet. Das Bilderbuch von Dieter Böge und Elsa Klever regt entsprechend an, sich in (Haus-)Tiere einzufühlen sowie Wahrnehmungen der Alltagswelt aufzuzeichnen und in Form von Mappings in jeweils andere Medien zu transformieren. In Anlehnung an das Bilderbuch würde dieses bedeuten, Gehörtes in Bildern auszudrücken und zu verdichten.
Übertragen auf den Alltag der Kinder könnte dieses im Rahmen von Familie wie auch Schule stattfinden. Die Frage an die Kinder wäre, welche Tiere in ihrem Leben für sie persönlich besondere Bedeutung hatten, konkret: Wann und wo ist für dich mit »deinen« Tieren etwas Besonderes passiert? Versuche dich an diesen Moment und diesen Ort zu erinnern. Wenn du jetzt »die Ohren spitzt«, was hörst du? Hast du Lust es aufzuzeichnen?