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Bilderbuchwerkstatt – Das Konzept

Kirsten Winderlich

Die Rezeption von Bilderbüchern ist mit Jens Thiele als „komplexes elementares Ereignis“ (Thiele 2003, 191) zu verstehen. „Es kann der flüchtige Blick sein, der etwas aufspürt, es kann die haptische Erfahrung des Materials sein, es kann die Fremdheit des Objekts sein, es kann die Assoziation an vorherige Erfahrungen sein“ (ebd.), die den nicht zu formalisierenden Rezeptionsprozess prägen. In diesem Zusammenhang die Perspektive von Kindern einzunehmen, stellt eine besondere forschungsmethodologische Herausforderung dar. Ein Problem hierbei ist, dass sich das Verständnis kindlicher Wahrnehmung häufig über Setzungen der Erwachsenen definiert und auf diese Weise ein Zugang zur Rezeption der Kinder erschwert wird (vgl. ebd., 190). Entsprechend ist die für vorliegendes Konzept Impuls gebende Frage, wie die spezifischen Zugänge von Kindern zu Bilderbüchern erhoben werden können. Welche Methoden und Verfahren können im Rahmen einer spezifisch auf Kinder zielenden Rezeptionsforschung eingesetzt werden? Welche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen sollten mit bedacht werden? Und welche Instrumente und methodischen Vorgehensweisen sind dafür nötig? Vor dem Hintergrund dieser Fragen ist ein Raum notwendig, der nicht nur der Erforschung der individuellen Rezeptionsprozesse der Kinder, sondern insbesondere deren individuellen Zugängen zu Bilderbüchern gerecht wird. Dieser Raum muss, so die Ausgangsthese vorliegenden Konzeptes, einen Werkstattcharakter aufweisen.

Im Kontext qualitativer Sozialforschung ist unter einer Forschungswerkstatt ein Verfahren zu verstehen, das durch einen gesetzten sozialen Rahmen Forschung in heterogenen Gruppen, d.h. zum Beispiel zwischen Praktikern, Lehrenden und Wissenschaftlern ermöglicht. In der Literatur zum Aufbau und zur Durchführung von Forschungswerkstätten finden sich detaillierte Informationen zum methodischen Vorgehen wie auch zur Integration der verschiedenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer (vgl. Riemann 2006; Hill, Wenzlik 2012). Raumbezogene Aspekte der Werkstatt finden in den praktizierten Forschungswerkstätten qualitativer Sozialforschung nur wenig Berücksichtigung. Eine reflektierte räumliche Gestaltung ist jedoch notwendig, so die Ausgangsthese, wenn die Werkstatt individuelle Rezeptionsprozesse von Bilderbüchern anstoßen, greifbar und kommunizierbar machen, d.h. den Kindern ermöglichen soll, sich den Bilderbüchern über ihre eigenen ästhetischen Praktiken zu nähern und sich mit diesen auseinander zu setzen. Im Gegensatz zur beschriebenen Forschungswerkstatt im Kontext von Praxisforschung und Wissenschaft spielt der konkret erleb- und gleichzeitig auch gestaltbare Raum für viele Künstlerinnen und Künstler eine besondere Rolle. Dieses zeigt sich nicht nur in der immer wieder betonten Bedeutung von Ateliers und Werkstätten für die künstlerische Produktion, sondern ebenso in deren individueller Gestaltung als Orte schöpferischer Schaffensprozesse (vgl. Bianchi 2011; Burg 2011). Gert Selle versteht unter einer Werkstatt darüber hinaus einen Ort, „an dem das Subjekt sich selbst in seinen ästhetischen Erfahrungen schafft und zu Bewusstsein bringt“ (Selle 1992, 35). Die Werkstatt ist demnach nicht nur anregende Umgebung, sondern vielmehr ein Motivationsraum ästhetischer Erfahrung und in diesem Sinne auch ein geistiger Raum des Subjekts. Die Bilderbuchwerkstatt, in der individuelle Rezeptionsprozesse von Kindern angeregt sowie erforscht werden, konstituiert sich demnach nicht nur aus Regalen, Büchern und Sitzgelegenheiten, sondern regt zu vielfältigen Erfahrungen, Äußerungen und Bildern im weitesten Sinne an, gibt den Kindern also Raum für ihre ganz eigenen inneren Bilder und Imaginationen.

In Auseinandersetzung und im Dialog mit diesem Konzept der Bilderbuchwerkstatt hat Olafur Eliasson den „Raum für Bildung und Bilder“ (2015) geschaffen, in dem die grund_schule der künste Zeitgenössische Bilderbücher sammelt, Kindern zur Verfügung stellt und die individuellen Rezeptionsprozesse erforscht – mit dem Ziel, Wege für eine Bildung durch Bilder aufzuzeigen und zu ebnen.

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Literatur:

Bianchi, P.: Das Atelier als Manifest. In: Kunstforum International. Ruppichteroth, Bd. 208 2011, S. 34-45
Burg, D. von: Künstlerateliers als gebaute Manifeste. In: Kunstforum International. Ruppichteroth, Bd. 208 2011, S. 108-129
Hill, B./ Wenzlik, T.: Forschungswerkstätten in der Kulturellen Bildung. In: Fink, T./Hill, B. / Reinwand, V.-I. / Wenzlik, A. (Hrsg.): Die Kunst, über Kulturelle Bildung zu forschen. Theorie- und Forschungsansätze. kopaed, München 2012, S. 287-294
Riemann, G.: „Forschungswerkstatt, in: Bohnsack, R./Marotzki, W./Meuser, M. (Hrsg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Budrich, Ulm 2006, 2. Aufl., S. 68-69
Selle, G.: Das Ästhetische Projekt. Plädoyer für eine kunstnahe Praxis in Weiterbildung und Schule. LKD Verlag, Unna 1992
Thiele, J.: Das Bilderbuch. Ästhetik, Theorie, Analyse, Didaktik, Rezeption. Isensee, Oldenburg 2000, 2. erw. Aufl.
Einblicke in die Vorarbeiten zum Konzept der Bilderbuchwerkstatt von Kirsten Winderlich finden sich in folgendem Beitrag: Winderlich, K.: Die Bilderbuchwerkstatt. Forschende Zugänge zur Rezeption Zeitgenössischer Bilderbücher im Grundschulalter zwischen Ort, Bild und Sprache. In: Kruse, I./ Sambisch, A. (Hrsg.): Fragwürdiges Bilderbuch. Blickwechsel – Denkspiele – Bildungspotenziale. kopaed, München 2013, 167-181

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Fotos: Maria del Pilar Garcia Ayensa / Studio Olafur Eliasson

Olafur Eliasson
Raum für Bildung und Bilder 2015
Wood, fabric, carpet, lights, foam
450 x 820 x 780 cm
Installation view at UdK, Grundschule der Künste, Berlin 2015
Courtesy of Raum für Bildung und Bilder by Olafur Eliasson, responding to Kirsten Winderlich's concept of the Bilderbuchwerkstatt at grund_schule der künste, Berlin
© 2015 Olafur Eliasson