Moor Myrte und das Zaubergarn
Sid Sharp
Text: Kirsten Winderlich
Repros: Elisa Bauer
Sid Sharp erzählt die Geschichte zweier Schwestern, die so arm sind, dass sie zum Frühstück Ratten und zu Mittag Kakerlaken essen. Trotz der widrigen Umstände, denen die beiden Schwestern gleichermaßen ausgesetzt sind, können sie ungleicher nicht sein. Ist Beatrice, die »Seligmachende«, zuversichtlich und zugewandt und hat zudem Freude am Naturforschen und Basteln, tritt Magnolia stets mürrisch, pessimistisch und abweisend auf und empfindet nicht zuletzt Genugtuung daran, Spinnen die Beine auszureißen. Die Spinnen sind es dann auch, die sich in mehrfacher Hinsicht als versteckte Hauptrolle wie ein Faden durch die Geschichte ziehen und sich buchstäblich ins Bild abseilen: als Ressource, Revolutionäre und Retter. Zum einen treffen wir in dem Bilderbuch auf die uns aus dem eigenen Alltag bekannten Gliederfüßer, die in dem kaputten und zugigen Haus der Schwestern verlässlich die Fliegen fangen. Und zum anderen zieht die »Moor Myrte«, ein fabelhaftes Wesen von einem Spinnentier, in ihren Bann. Dass Moor Myrte Beatrice ihre Zauberseide schenkt, ist im Nachhinein nicht nur als Komplott gegen die nörgelnde und eigennützige Magnolia zu deuten, sondern auch als überraschende Verknüpfung von knallharter Realität und märchenhafter Fügung. So helfen die Tierchen die Zauberseide zu Garn zu spinnen, aus dem Beatrice für Magnolia einen wärmenden Pullover strickt. Nachdem das Schmuckstück, »weicher als ein Blütenblatt und wärmer als eine Tasse Tee«, zum Erfolgsprojekt avanciert und Magnolia Kapital wittert, gehen die Spinnen als mittlerweile ausgebeutete Arbeiterinnen auf die Barrikaden. Denn: »Wenn Magnolia niemanden herumkommandierte, lebte sie von den Gewinnen in Saus und Braus«, heißt es in der Geschichte. Klar, dass sich die Spinnen das nicht bieten lassen konnten. Sie streiken! Da sich Beatrice solidarisch erklärt, macht sich Magnolia allein auf den Weg, um Nachschub in puncto Zauberseide zu organisieren. Doch hat sie nicht mit Moor Myrte gerechnet! Diese duldet nämlich keine Ausbeutung des Waldes! Denn alles, und sei es noch so unscheinbar, wie zum Beispiel ein »ramponiertes Reiherei«, eine »schmucke Schmetterlingslarve« oder ein »purpurfarbenes Pilzgeflecht«, hat seinen unwiderruflichen Platz im unverzichtbaren Ökosystem. Und nachdem Magnolia auch noch den von Beatrice liebevoll handgestrickten Pullover »mit Füßen tritt« reicht es der Moor Myrte. Sie verwandelt Magnolia in eine Fliege und frisst sie. Beatrice hingegen macht sich aus den Spinnweben und Rattenschwänzen eine neue Schwester und lebt glücklich mit ihr weiter. Soweit wie in einem Märchen – Ende gut und alles gut? Von wegen! Denn Sid Sharp konfrontiert uns mit ihrem grotesken Comic und ihren plakativen wie zuspitzenden Bildern – die uns geradezu »anschreien« – mit einem Abbild unserer Gesellschaft. Auf der einen Seite tauchen wir ein in eine fantastische Welt, die uns wie in so manchen Märchen gruseln lässt. Auf der anderen Seite ploppen vor schwarzem Hintergrund immer wieder Aspekte aktueller Krisen auf, wie zum Beispiel der selbstsüchtige, rücksichtslose, ausnutzende wie zerstörerischen Umgang mit Natur und Menschen im Kontext hegemonialer Ordnungen, und fordern uns heraus. So können wir das Bilderbuch nicht zur Seite legen, ohne uns mit Machtstreben und Ausbeutung, Missgunst und Feindseligkeit auseinanderzusetzen und gleichzeitig der überlebenswichtigen Bedeutung von Umsicht, Mut und Engagement bewusst zu werden.
Sid Sharp
Moor Myrte und das Zaubergarn
Aus dem Englischen von Alexandra Rak
NordSüd 2025
152 Seiten, durchgehend farbig illustriert,
Hardcover, 19 x 22,9 cm
ISBN: 978-3-314-10725-2
€ (D): 22 / € (A): 22,70 / CHF: 28,90