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Ihre Hoheit Matsch

Ihre Hoheit Matsch
Prinzessin von Schlammland
Beatrice Alemagna

Text: Kirsten Winderlich
Repros: Sophia Ashraf und Lucia Leonhardt

»Ich habe einen schlechten Charakter. […] Ich bin fies und ungezogen. […] Alles in mir verknotet sich.« Selbsterfüllende Prophezeiungen wirken auch schon im Kindesalter und machen einsam. Vielleicht gerade dann, wenn einem wenig Aufmerksamkeit und Wohlwollen entgegengebracht werden. In dem einfühlsamen Bilderbuch von Beatrice Alemagna trifft dieses tiefgreifende Erleben auf unheimliche Orte, wie »Schlammland«, »Ärgerwald«, »Verbergsee«, »Museum der Zornobjekte« oder »Wutothek«. Und paradoxer Weise hilft diese unterirdische Welt unter ihrer »Hoheit Matsch« der Protagonistin Yuki die unliebsam überbordenden Gefühle anzuerkennen. Doch bevor der Umgang mit den verstörenden Emotionen gelingt, muss Yuki in die Untiefen ihres Erlebens abtauchen. Wieder einmal ihrem Bruder ausgesetzt, der sie nur widerwillig von der Schule abholt, sich in seiner Kapuze verschanzt und von ihr abwendet, wirft sie resigniert den Haustürschlüssel in einen Gully. Eine Tat, die der eigenen Wut trotzt und gleichzeitig die Täterin zum Verschwinden bringt. Denn: Welche Geste, den eigenen Alltag hinter sich zu lassen, ist treffender, als die, den Haustürschlüssel wegzuwerfen? Voller Verzweiflung steigt Yuki nun hinab und durchlebt buchstäblich die Kanalisation ihrer Gefühle. Diese erfahren nicht nur in der Visualisierung einer breiten Palette von Mimik und Körperhaltung, sondern auch in der grandiosen Übersetzung der Wortschöpfungen von Henrieke Markert einen bewegenden Ausdruck. »Es gibt eine sehr lange Leiter«, lässt Beatrice Alemagna erneut Yuki sprechen. »Ich steige an ihr hinab und gehe immer weiter runter, runter, runter. Ich habe Angst, aber ich gehe weiter, Sprosse für Sprosse, bis ich einen unbekannten Ort erreiche«. Den stufenweisen Abstieg als zentralen Moment der Selbstüberwindung hebt die Bilderbuchkünstlerin auch typografisch hervor und integriert das dreifach wiederholte Adverb »runter« im Text wie Treppenstufen versetzt. Im Klappentext wiederholt, erhält diese Passage sogar noch eine neongelbe Farbe, die mit Yukis Blouson korrespondiert und auf diese Weise den Akt des Aufbruchs ins Unbekannte mit der Aktion der Person verschmilzt. In der unterirdischen Welt angekommen, ist Yuki nicht allein, was die Unheimlichkeit der Situation in keiner Weise schmälert. Denn auf einmal ist ein grunzendes Etwas zu vernehmen und eine triefend erdige Riesengestalt mit holzigen Händen und Haaren, die wie Gestrüpp zu Berge stehen, schiebt sich ins Bild. Es ist niemand anderes als »Ihre Hoheit Matsch, Prinzessin von Schlammland«. »Schlammland« sei nun auch ihr Zuhause, befiehlt die sonderbare Macht und fordert Yuki auf, ihr zu folgen. Dass die Prinzessin, wenn jemand gemein ist, größer wird und wächst, ist in diesem Zusammenhang weniger autoritärer Erziehungsstil als vielmehr emphatische Spiegelung der Gefühle ihres Gegenübers. Unsicher und ängstlich geht Yuki der Prinzessin hinterher, »vorbei an riesigen, seltsamen Bäumen« direkt in den »Ärgerwald«. Hier sollen alle die sicher sein, die schon einmal gemeine Dinge getan haben. Begleitet werden die beiden von den »Müffelinos«, stinkenden Wesen, die wie Miniausgaben der Hoheit wirken und deren Aufgabe es ist, Neuankömmlingen Schuldgefühle zu machen. Das Besondere der Orte und der Wesen, denen Yuki in »Schlammland« ausgesetzt ist, ist, dass sie mit ihren Gefühlen angenommen wird, sich sicher fühlt und spürt, dass sie nicht allein ist. »Schlammland« ist also nicht nur ein unheimlicher Ort, sondern eröffnet gleichzeitig einen geschützten Raum. Insgesamt ist die besondere Ästhetik des Bilderbuches von derartigen Kontrasten geprägt, durch deren Spannweiten ein breites Spektrum an Möglichkeiten schimmert, die die Kanalisierung der Gefühle begleiten. So darf Yuki der »Hoheit Matsch« nicht nur als streng, sondern auch als wohlwollend und fürsorglich begegnen. Oder die »Müffelinos«: Sie machen nicht nur Schuldgefühle, sondern vermögen auch Kleidchen aus Moos mit Wohlfühlwirkung herzustellen. Und der »Verbergsee« bietet nicht nur Versteck für alle die, die laut der Prinzessin »etwas ausgefressen haben«, sondern eröffnet mit seiner von Seekaninchen gezogenen pinkfarbenen Kutsche traumhafte Unterwasserwelten. Immer ist es Yuki, die die initiierte Transformation der Gefühle von einem Pol zum anderen durchlebt und erfährt: Von Schrecken zu Lust, von Angst zu Mut, von Gehemmtheit zu Selbstsicherheit… Auf der Bildebene begegnen wir diesen zarten Möglichkeitsräumen zwischen den Kontrasten, indem uns ein fulminantes Zusammenspiel von Zeichnung und Malerei, Kreide, Buntstift und Aquarell wie amorphen Formen und visuellen Texturen in den Bann ziehen. Und gleichzeitig leuchten in allen Bildern punktuell immer wieder Neon-Gelb, Pink und Azurblau und verbinden die triste Alltagswelt mit dem faszinierenden »Schlammland«. Einzig auf der Doppelseite, auf der Sen und Yuki noch von Matsch so triefend aus dem Gully steigen, fehlen die Farben. Dieses Phänomen findet seine Korrespondenz im Text, denn da heißt es: »Draußen ist der Himmel eine mit Schnee bestickte Decke. Und wir, ganz schwarz vom Schlamm, sind zwei verirrte Aliens.« Wie gut, dass Yuki im »Museum der Zornobjekte« Sens gelben Hund entdeckt hat und damit weiß: Sie ist mit ihrer Wut und ihrer Einsamkeit nicht allein. Und wie schön, dass Sen sie, endlich wertschätzend und liebevoll, zurück nach Hause holt. Klar, dass die Prinzessin darüber nicht erfreut ist. Denn nun ist sie diejenige, die einsam und allein ist. »Langsam verschwindet sie. Ein Zweiglein im Schlamm.« Doch Yuki weiß jetzt, dass sie einen Ort – vielmehr einen Weg – zu ihren Gefühlen gefunden hat und verspricht (als Freundin) wiederzukommen.

Beatrice Alemagna
Ihre Hoheit Matsch. Prinzessin von Schlammland


Aus dem Italienischen von Marieke Markert
Rotopol 2025
56 Seiten, Hardcover, fünffarbig mit einer Sonderfarbe,
23,5 x 31,6 cm
ISBN: 978-3-96451-059-4
€ (D) €: 24 / (A): 25,95 / CHF: 35,90