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Hast du meine Schwester gesehn?

Text: Kirsten Winderlich

Das Aufklappen, das Hin- und Herklappen ist in Joke van Leuwens Bilderbuch ein wichtiges Stilmittel, durch das Verfremdung, Verwandlung und Entdeckung initiiert werden und die helfen, die Geschichte entstehen zu lassen. In dem Bilderbuch „Hast du meine Schwester gesehn?“ ist ein kleiner Junge mit seinem Kuschelhasen auf der Suche nach seiner Schwester und fragt auf jeder Seite erneut nach ihr. Es ist eine Suche zwischen Ernst und Spiel, zwischen dem Alltag im Leben eines kleinen Kindes und dem Theaterspiel älterer Kinder. Suchen, Finden und Entdecken werden auf drei Ebenen initiiert und angeregt. Auf der Ebene des Theaterspiels älterer Kinder für Jüngere, auf der Ebene des frühen Versteckspiels jüngerer Kinder sowie auf der Ebene des Formenspiels.
Der Junge steht vor einer Mauer, die jeweils fast zwei Drittel der Buchseite einnimmt und seine Welt von der der älteren Kinder trennt. Gleichzeitig dient die Mauer den älteren Kindern als Theaterraum.
Der kleine Junge, der mit großem nur knapp mit Haar und Käppi bedecktem Kopf und weißem Schal zur stilistischen Kunstfigur wird, ist Teil des Spiels der älteren Kinder. Er geht an der Mauer entlang, sucht seine Schwester und begegnet bizarren Figuren. Er sieht nur die Köpfe. Den Rest stellt er sich so vor, wie es die Kinderzeichnungen auf der Mauer von Mal zu Mal immer wieder darstellen. Er taucht also nur punktuell in das Theaterspiel ein. Immer wieder nimmt er die Suche nach seiner Schwester auf, ruft über die Mauer, fragt nach ihr und beschreibt sie auf jeder Seite etwas mehr. „Sie ist größer als ich und hat blaue Augen“, erklärt er zum Beispiel einem grünen dinosaurierartigen Kopf mit roten Augen. Klappen wir die geteilte Seite, die Mauer, zur Seite, sehen wir weder, wie erwartet, einen über die Mauer schauenden Fortsatz der Figur, weder die Konkretisierung der gezeichneten Vorstellung noch die große Schwester. Wir finden vielmehr das erfragte Merkmal in unerwarteten Szenen und Bildern. Wir sehen die blauen Augen der Schwester, ihre Jacke mit Taschen, die gelbe Mütze oder die Schuhe mit Schnürsenkeln – überdimensioniert und in Form einer Verkleidung transformiert. Die Jacke erscheint als riesengroßer Mantel mit Taschen voller Spielzeug, eine mächtige Figur umhüllend. Die gelbe Mütze bietet mindestens acht Tieren Unterschlupf, wie wir an ihren Beinen, Hufen und Pfoten erkennen können. Auch die Schnürsenkelschuhe werden riesengroß inszeniert, so dass sie wie ein Boot wirken. Es wird also immer nur zum Teil gezeigt, was der Junge sucht und benennt. Die Attribute, die seine Schwester erkennbar machen könnten, erscheinen, nie jedoch sie selbst. Bis zum Schluss bleibt die Schwester verborgen. Aber schließlich wird sie gefunden, und die Freude an der Entdeckung ist groß – ist sie doch existentiell für den kleinen Jungen. Überrascht?

Joke van Leeuwen
Hast du meine Schwester gesehen? 
Gerstenberg Verlag 2008
32 Seiten, durchgehend farbig illustriert, mit Klapp- und Panoramaseiten
Hardcover, 16.5 x 1 x 25.5 cm
ISBN: 978-3-836-95180-