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Was eine Kiefer ist

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Was eine Kiefer ist
Geschichten aus der botanischen Welt
Florian Weiß & Lucia Jay von Seldeneck

Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer

Der leuchtende Klatschmohn am »Poppy Day« in England, in Papierform im Knopfloch drapiert, erinnert an die verheerenden Folgen des 1. Weltkrieges. – Mit Hilfe des Bambus und minutiös ausgebildetem Fußwerk bringen die sogenannten »Spinnenmenschen« in Hongkong es zur Meisterschaft im Gerüstbau. – Der Gärtner Karl Foerster in Potsdam-Bornim konnte sich nicht satt sehen an der Schönheit des Rittersporns und züchtete die Blume von enzianblau über perlmuttblau und glühend blau in bis zu 82 Sorten.
Diese, und noch viel mehr Geschichten aus der botanischen Welt, erzählen Florian Weiß und Lucia Jay von Seldeneck kongenial über Bild und Text. Sie lassen sich dabei von den vielfältigen Beziehungsgeschichten zwischen Menschen und Pflanzen verführen und bringen diese, sei es in Form von Anekdoten, Songs oder dialogischen Einlassungen, intermedial gekonnt ins Wechselspiel. Den konzeptionellen Rahmen für die Gestaltung der bibliophilen botanischen Sammlung entwickelten die Buchkünstlerinnen Yi Meng Wu und Milena Bolland und ließen sich dabei von der Ästhetik alter wissenschaftlicher Karteikarten anregen.
Nach einem poetischen Vorwort und einer weltumfassenden Kartierung der 24 ausgewählten Pflanzen, tauchen wir ein in ein fulminantes Pflanzenweltenbuch und begeben uns auf eine Entdeckungsreise, die nicht nur unsere Wahrnehmung anstachelt, sondern auch unser bisheriges aus Unterricht und Lehrbuch generiertes Wissen mit einer selten erfahrenen Leichtigkeit und Kurzweiligkeit füttert. Die Text-Bild-Beschreibungen der einzelnen botanischen Schätze verfolgen dabei eine Struktur von fünf unterschiedlichen Zugängen, die untereinander in Beziehung gesetzt werden und unser Verständnis für die jeweiligen Pflanzen vielsinnlich verdichten. Ausgehend von poetischen Überschriften mit weitem Bedeutungshof sowie handschriftlichen Notaten des (Fund-)Ortes auf weißen linierten Karteikarten mit rot gerahmtem Rand, werden wir von Lucia Jay von Seldeneck durch Erzählungen, Kurzgeschichten, Zitate oder Dialoge zwischen Fiktion und Realität an die Hand genommen und auf die jeweilige Pflanze eingestimmt. Es folgt eine Differenzperspektive durch die Brille eines biologisch orientierten Zugriffs. Neben dem wissenschaftlichen Namen, der Bestimmung der Pflanzenfamilie, der Spezifika im Hinblick auf Aussehen und Lebensraum, der Einschätzung des Status sowie Ausführungen zur Etymologie, werden die aus Bestimmungsbüchern bekannten Kategorien durch die Auflistung von Songs irritiert und erweitert. Nach der Einstimmung auf die jeweilige Pflanze und der Vergewisserung dieser durch gängige Pflanzenbestimmung folgen ein Text und ein visuelles Mapping, die die bisherigen Erkenntnisse unter Berücksichtigung der historischen und gesellschaftlichen Kontexte bündeln und gleichzeitig unseren Blick auf die jeweilige Pflanze und ihre Geschichte(n) weiten. Die seitenfüllenden Mappings haben dabei den Charakter von detailreichen, dokumentarischen Zeichnungen, für die der Illustrator Florian Weiß nicht nur Bleistift, Aquarell- sowie zahlreiche Pflanzenfarben und Fotografien einsetzt, sondern darüber hinaus mit einer eigens hergestellten Punktiermaschine arbeitet. Die Fotografien wirken dabei durch das von ihm ebenfalls entwickelte Verfahren der Xylotypie zeichnerisch-grafisch. Konkret verknüpft der Illustrator in seinen Mappings botanisch differenzierte Darstellungen von Pflanzen mit lexikalisch anmutenden Abbildungen, historischen Dokumenten, Grundrissen, Ansichten von Stadt und Landschaft, Schnitten, Formeln und Noten sowie mit Bildern ausgewählter Objekte. So wird zum Beispiel die Eibe mit ihren am Zweig angeordneten giftigen Nadeln vor dem Hintergrund botanischer Details und Samenmäntel-Schnitten der Früchte getragen. Des Weiteren ergänzen Zeitungsartikel, Stadtpläne wie eine Detailzeichnung der Dampfwalze, mit der im Jahr 1907 eine fast 300 Jahre alte Eibe durch die Frankfurter Straßen in den neu angelegten Palmengarten versetzt wird, das Bild und tragen maßgeblich zur Inszenierung der Pflanze bei. Seien es Erinnerungen, Entdeckungen oder Erfindungen im weitesten Sinne, zu denen die ausgewählten Pflanzen angeregt haben, erhalten diese immer einen Ehrenplatz in Bild und Text. Damit lassen sie schließlich das letzte 25. Kapitel für sich sprechen, handelt es sich hierbei doch um die Samengutbank in Spitzbergen, die sich nicht nur der Bestimmung und dem Bewahren von Pflanzen, sondern auch der Hoffnung verpflichtet sieht. Diese Hoffnung in ihren unzähligen ästhetischen Transformationen, entgegen jeglichen apokalyptischen Sprechweisen, ist es, dass dieses Buch so einzigartig macht.

Florian Weiß (Ill.) / Lucia Jay von Seldeneck (Text)
Was eine Kiefer ist.
Geschichten aus der botanischen Welt
Buchgestaltung: Studio Wu 無
Kunstanstifter 2024
132 Seiten
Hardcover mit Prägung und Lesebändchen, 20,5 x 29 cm
ISBN: 978-3-948-743-37-6
€ (D): 30 / € (A): 30,90 / CHF: 44,90

Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption

Das Mapping auf dem Vorsatzpapier des Buches zeigt zahlreiche Farbproben und -verläufe. Notizen zu Herkunft und Einsatz der Farben regen zum Rätseln an. Auf ein wandfüllendes Großformat kopiert, lädt die ›Weltkarte‹ der Farben ein, Assoziationen zu formulieren. Wie sind die Farben auf den Hintergrund gekommen? Was hat es mit den Begriffen auf sich? Wie viele Blautöne kann ich entdecken? Wie verändert sich die Farbe von Blut, wenn sie getrocknet ist?
Der forschende Zugang zum Buch kann in der Folge anhand ausgewählter und kopierter Pflanzenkapitel in Kleingruppen fortgesetzt werden. Auf Din-A3 hochkopierten Karteikarten erhalten die Kinder die Gelegenheit, ihre Entdeckungen in Schrift und Bild festzuhalten.
Die Experimentierfreude des Illustrators aufgreifend, haben die Kinder schließlich die Möglichkeit, Pflanzen mit künstlerischen Mitteln zu erforschen: mit Verfahren der Frottage, des analogen Druckes, des Schattenrisses, der Prägung sowie der Kolorierung.

Der Workshop wurde von Kirsten Winderlich, Elisa Bauer und Helen Naujoks konzipiert und unter Mitarbeit von Lucia Leonhardt mit einer 4. Klasse der Miriam-Makeba-Grundschule in Berlin-Moabit durchgeführt.