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Suchen, Finden und Entdecken

Bilderbücher für Kinder, die jünger als drei Jahre sind

Text: Kirsten Winderlich

Spätestens seit »Bookstart« — einem in den 1990er Jahren in Großbritannien entwickelten und erprobten Programm zur frühen kindlichen Sprachförderung und elementaren Bildung nebst seinen deutschen Nachahmern, die seit 2006 folgten — richtet sich die Aufmerksamkeit in Deutschland auf Bücher für Kinder unter drei Jahren. Doch was sind das für Bücher, die sich Eltern, Tagesmütter, Erzieherinnen und Erzieher mit kleinen Kindern anschauen sollten? Was ist das überhaupt für ein Bilderbuchbetrachten in dieser frühen Zeit? Welche Rolle spielt das Lesen, welchen Raum nimmt das Erzählen ein, und welche Bedeutung haben die Bilder in diesen Büchern für die Allerkleinsten?
Ein Blick in eine deutsche »Bookstart«-Tasche zeigt: Bücher mit robusten Pappseiten, auf denen häufig Tiere, einzelne Gegenstände oder Fahrzeuge aus der Alltagswelt abgebildet sind. Die Bilder, meist realistisch, sind oft in den Grundfarben koloriert und konturiert. Einige der Bücher weisen zudem Zusatzobjekte auf. So finden wir zum Beispiel Bücher, aus denen Fingerpuppen herausschauen, und Bücher, deren Rücken eine Rassel oder einen Greif-ling ausbildet. Es gibt sogar Bücher, die wasserabweisend und badewannen-tauglich sind, oder Bücher, die an elastischen, spiralförmigen Strippen, ähnlich einer Schnullerkette, befestigt sind.
Was bedeuten diese Beigaben? Dienen sie als eine Art Übergangsobjekt zwischen der Hochkultur Buch und der vermeintlichen Alltagswelt kleiner Kinder? Auf alle Fälle soll das Buch dem Kind durch diese Ausstattung nahegebracht werden: Es ist immer auch ein Spielzeug.
Bemerkenswert ist, dass kleinen Kindern durch diese für ihre Altersgruppe auf dem Markt geworfenen Bilderbücher unterstellt wird, sie könnten mit dem Buch als Buch, das zwischen Bild und Text eine Bedeutungsvielfalt eröffnet, eigentlich noch nichts anfangen. Die Gestaltung solcher Bilderbücher für die Allerkleinsten legt nahe, dass dem kleinen Kind lediglich zugetraut wird, einzelne, konkrete, klar abgegrenzte Bilder betrachten zu können. Es wird der Eindruck erweckt, dass sie ausschließlich einfach aufgebauten Sätzen in sich immer wiederholendem Satz-baumuster lauschen können. Letztendlich werden die Allerkleinsten so eingeschätzt, dass sie mit Büchern nicht angemessen sorgfältig umgehen können, sie fallen lassen, verlieren oder sogar fortwerfen. Nachdenklich stimmt darüber hinaus, dass die beigefügten Fingerpuppen, Kuscheltiere und Spielzeuge auf einen leisen Zweifel an der Improvisationsfähigkeit und Erzähllust der Erwachsenen hinweisen.
Stellen wir uns einmal einen bilderbuchbegeisterten Erwachsenen vor, der Bücher mit Sorgfalt auswählt und sich mit der gleichen Lust und Leidenschaft in diese Bücher vertiefen kann, wie er es von einem kleinen Kind erwartet. Berücksichtigen wir darüber hinaus, dass kleine Kinder spätestens in der Mitte ihres zweiten Lebensjahrs ein genuines Interesse am Betrachten von Bildern und Hören von Geschichten zeigen. Wenn wir uns bewusst machen, dass gerade die Allerkleinsten Bilderbücher gemeinsam mit einem Erwachsenen betrachten, dass also der Umgang mit dem Bilderbuch und seine Rezeption stark von der Beziehung zwischen Kleinkind, Buch und Erwachsenem abhängen, dann sollten wir bei der Auswahl von Bilderbüchern für diese Altersgruppe auch außerhalb des Reservats der auf dem Buchrücken vermerkten Altersangaben suchen und fündig werden.

Das Entdecken als Zugang zum Buch in der frühen Kindheit
Für Kinder unter drei Jahren spielt die Entdeckung als spezifisch ästhetische Selbstbildungspraxis eine besondere Rolle. Haben kleine Kinder zum Beispiel die selbstständige Fortbewegung für sich entdeckt, nutzen sie sie, um ihren Aktionsradius zu erweitern, ihre Umwelt zu erkunden und zu erforschen. Ebenso bedeutsam ist für Kinder in dieser Zeit die Entwicklung innerer Bilder und die stetige Erweiterung der eigenen Vorstellungswelt.
In die Zeit unter drei Jahren fällt auch das Sprechenlernen. Das Interesse an immer neuen Wörtern, das Bedürfnis, Entdeckungen zu benennen, Wörter zu suchen, sie mit anderen zu teilen, ist unverkennbar.
Wenn wir uns die Bedeutung der Entdeckung als ästhetische Selbstbildungspraxis für kleine Kinder in Bezug auf ihre sinnlich-konkrete Wahrnehmung, die Bedeutung innerer Bilder und Vorstellungen, die Sprache und das Sprechen vor Augen führen, wird deutlich, wie wichtig es ist, dass Bilderbücher für kleine Kinder zwar erkennbar und rezipierbar sein sollten, aber gleichzeitig auf vielfältige Weise auch Momente der Überraschung und des Unerwarteten bereithalten — und zwar in ihrem ureigenem Medium, der Geschichte zwischen Bild und Text.
Eine Form, die das Suchen, Finden und Entdecken herausfordert, ist das Wimmelbilderbuch. Charakteristisch für diese besondere Form ist das große Format, auf dem sich die Bilder, meistens doppelseitig, erstrecken. Seit Jahrzehnten sind die Bücher von Ali Mitgutsch bekannt, der in seinen Bildern eine Vielzahl von Figuren, Figurengruppen und Szenen rund um ein Thema, zum Beispiel Stadt, Bauernhof oder Wasser, arrangiert.
Wimmelbilderbücher weisen vor diesem Hintergrund eine Dichte an visuellen Mitteilungen auf, die zwar zahlreiche Zugänge zum Bild bieten und eine Vielfalt an Entdeckungen ermöglichen, aber gerade dadurch auch ein intensives Eintauchen in ein Bild erfordern oder — durch die Fülle und Flut der visuellen Impulse und Informationen — umfangreichere Assoziationen erschweren.
Im Gegensatz zu den geläufigen Büchern, die die Aufmerksamkeit des kleinen Kindes für das Buch auf unterschiedliche Weise gewinnen wollen —sei es durch Beigaben wie Puppen oder Spielzeug, sei es durch ein Fülle an Bildern —, sollen im folgenden drei Bilderbücher vorstellt werden, die auf der sinnlichen Wahrnehmungsebene nicht überlasten oder überreizen, also in Bild und Text sparsam und reduziert sind und dennoch gleichzeitig Momente der Spannung und Überraschung beinhalten. Allen gemeinsam ist das Thema der Verwandlung, der Transformation von Form und Figur, an der wir im Wechselspiel zwischen Bildern und Sprache teilhaben, die uns durch das Buch und die Geschichte führen, uns aber gleichzeitig auffordern, zu suchen, zu finden oder zu entdecken und uns über die Entdeckung eine Geschichte vorzustellen, in sie einzutauchen.

»Das runde Rot« oder Vom Kreislauf der Dinge
Das Bilderbuch »Das runde Rot« von Katja Kamm erzählt eine Geschichte, in der ein Kreis sich von Seite zu Seite in andere und neue Gegenstände verwandelt (s. Bilder oben).
Auf der ersten Seite sehen wir nur einen roten Kreis, eine runde rote Fläche, eben das runde Rot, das durch das Stilmittel der Alliteration personifiziert und dem Betrachter als Gegenüber präsentiert wird.
Auf der zweiten Seiten tauchen ausgestreckte Arme aus der unteren Bildhälfte auf. Der rote Kreis, das runde Rot, wird zum Ball. Es ist nicht eindeutig, ob die Arme, ob das durch die Arme angedeutete Kind den Ball wirft oder fängt.
Auf der nächsten Seite erscheint das Mädchen, den Ball fangend und hochwerfend. Die Bewegungsrichtung verläuft über zwei Seiten von links nach rechts. Am Rand der rechten Seite wird ein Baum angedeutet; Äste mit grünem Laub ragen von der oberen Hälfte ins Bild. Ein Blatt fällt. Und ein weiteres Blatt, das auf den Ball fällt, verwandelt ihn in einen Apfel.
Im Unterschied zu den Bilderbüchern für kleine Kinder, in denen Gegenstände konkret abgebildet werden, steht hier eine geometrische Fläche, eine Abstraktion im Mittelpunkt, die durch die Einbettung in konkret dargestellte Situationen in der Vorstellung zu konkreten Gegenständen werden kann.
Das runde Rot, eine poetische Bezeichnung für den Ausgangspunkt der Metamorphose, verwandelt sich von Seite zu Seite durch die Handlungen und die Bewegung der neu auf die Bühne tretenden einzelnen Figuren. Es geht also nicht um die Identifizierung einer abstrakten geometrischen Form in der Lebenswelt, es geht nicht um die Erkenntnis, dass ein Ball rund ist, sondern es geht um die Vorstellung, was ein roter Kreis, eine runde geometrische Fläche alles sein könnte, also um die Eröffnung eines weiten Bedeutungshofes.
Die rote geometrische Kreisform wird in unterschiedlichen Situationen und Geschichten in Gegenstände verwandelt, indem sich der Kontext dieser Gegenstände eröffnet, immer in der Nachbarschaft des konkret abgebildeten Gegenstandes. So entdecken wir das runde Rot anstelle eines Autorades neben einem konkret abgebildeten Autorad. Das runde Rot kann als Autorad identifiziert und gleichzeitig die geometrische Form mit dem Gegenstand Autorad auf dem Bild verglichen werden.
Das runde Rot verwandelt sich in einen Ball, in einen Apfel, in ein Autorad, in eine Schallplatte, in ein Tablett, in einen Lollipop, in ein Jojo, in einen Ballon, in eine Sonne und wieder in einen Ball. Jeweils eine Doppelseite dient der Vorstellung des neuen Objekts. Jeweils eine Seite davor bahnt sich die Transformation und Verwandlung des runden Rots durch den Auftritt der Personen, Tiere und die jeweilig neue Handlung an. Neue fremde Hände reichen vom rechten Seitenrand ins Bild, nehmen dem Mädchen den Apfel weg und werfen ihn fort. Ein Hund erscheint, fängt den Apfel und trägt ihn in seinem Maul aus der Szene auf die nächste Seite zu einem Auto mit plattem Reifen. Der Reifen wird gerade gewechselt, und aus dem Apfel wird nun ein roter Reifen. Mann und Hund fahren mit dem neuen Reifen und müssen an einem Vorfahrtschild anhalten. Eine Clownin nutzt diesen Moment und klaut den Reifen, legt ihn wie eine Schallplatte auf ein Grammophon und tanzt mit ihrer Katze. Der Katze wird schwindelig, und die Clownin stellt die Schallplatte in einen Ständer. Da kommt ein Junge, nimmt sich die Schallplatte und funktioniert sie zu einem Tablett um. Mit dem Tablett und Stäbchen in der Hand eilt er auf einen Koch zu, der aus Japan kommen könnte. Auf eins seiner Stäbchen gestellt, wird die Platte zum Lollipop und, als sie hochgeschleudert wird, vom Lutscher zum Jojo. Schließlich löst sich das Jojo, fliegt wie ein Ballon zum Himmel und leuchtet von dort oben als rote Sonne im Abendlicht. Das Mädchen vom Beginn der Geschichte naht, entdeckt das runde Rot und kichert. Wahrscheinlich erinnert es sich an all das, was es mit dem runden Rot erlebt hat. Nun könnte die Geschichte von vorn losgehen.
Die Bilder sind stilisiert auf das Wesentliche, sowohl in Bezug auf die Gegenstände als auch in Bezug auf Figuren: Wir begegnen einem Mädchen und einem Jungen, einem Pater, einer Clownin, einem Koch, einem Mann und einem Hund. Die Bilder in klaren Farben zeigen Szenen zwischen Comic und Malerei. Die klar kolorierten Figuren und Gegenstände, mit handgemalt anmutendem Strich konturiert, heben sich deutlich vor den satten, wechselnd monochromen Hintergründen ab. Aber sie werden in der Verwandlung gezeigt, im Werden.
An diesen Transformationen sind die Figuren durch ihre Handlungen maßgeblich beteiligt. Es sind Transformationen, die sich gewissermaßen erst durch die Entdeckungen des Betrachters vollziehen.

Ein Regentag im Zoo oder: Von Häusern und Tieren
Die Vorstellungsfähigkeit des Betrachters, ob groß oder klein, erfährt auch im Bilderbuch »Ein Regentag im Zoo« von Isabel Pin eine große Herausforderung. Die Geschichte handelt von einem besonderen Tag, an dem Anna mit ihrem Vater in den Zoo geht.
Die ersten beiden Bildseiten öffnen den Blick auf eine Stadt. Die auf das Wesentliche reduzierte, stark flächenhafte Malerei zeigt Fassaden von Häusern, die durch ihre milchigen Farbschichten fast transparent wirken. Neben den grauen Hausfassaden taucht ein auf den Eingang des Zoos verweisendes Elefantenportal auf. Die Eingangsportale zu zoologischen Gärten integrieren häufig Tierköpfe oder ganze Tierkörper und weisen durch ihre »archi-tecture parlante« auf den besonderen Ort hin.
Es regnet. Der Text erzählt, dass alles nass wird und die Tiere in ihren trockenen, warmen Häusern bleiben. Aber: »Welches Tier ist in welchem Haus?« Das ist die Frage und der Impuls für die spezifische Betrachtungsweise und Lesart des Bilderbuchs (s. Bilder S. 51).
Eine ähnliche Frage bildet auch den Ausgangspunkt in Francois Delebecques Buch »Tiere auf dem Bauernhof«. Auch hier verstecken sich Tiere hinter Klappen, allerdings hinter schwarz glänzenden Silhouetten in Standard-Postkartenposen (s. Bilder S. 50, Mitte).
In der Geschichte »Ein Regentag im Zoo« erwartet uns hingegen Seite für Seite eine andere Hausskulptur, mit mehreren Farbschichten gemalt und präsentiert vor reduzierten, stilisierten Landschaften. Die Häuser passen sich an die Form der jeweiligen Tierkörper an. Ihre Fassaden werden bei intensivem Betrachten zur Hülle und Haut, durch die man meint, körperhafte Silhouetten durchschimmern zu sehen. Die Hausskulpturen lassen auf den Bildern über Farbigkeit und Form also immer ein bestimmtes Tier erahnen, das nach dem Aufklappen der Fassade auch zutage tritt. So steht das Haus des Flamingos auf einer Säule im Wasser und ist mit einer rosafarbenen Farbschicht versehen. Durch den Einbau eines gewaltig großen Tores an der richtigen Stelle passen vier Beine und ein Rüssel genau in das Haus, wie maßgeschneidert für einen Elefanten.
Die Bilder der Häuser und Tiere werden auf der linken Seite von Fragen flankiert, die nicht nur einfach auf die Hausbewohner zielen, sondern sich auf das Spezifische des Hauses und des jeweiligen Tiers richten, also eine Verknüpfung zwischen Tier und Behausung herstellen und damit das Rätseln und Entdecken um ein Vielfaches verstärken. In den Fragen wird immer auch ein Hinweis auf das jeweilige Tier gegeben, durch Adjektive wie »riesig« oder den Verweis auf spezifische Architekturmerkmale: Das Haus steht mitten im Wasser. Es hat viele Dächer oder zwei Schornsteine. Immer wird gefragt, wer in diesem besonderen Haus wohnen könnte. Immer wird das Haus mit einem architektonischen Wesensmerkmal beschrieben, das eine Spur Bewohner legt: Der Turm verweist auf die Giraffe, das riesigem Gebäude auf den Elefanten, das Haus mitten im Wasser dient als Metapher für den Flamingo.
Zu entdecken sind ganz unterschiedliche Architekturen, die in der Malerei Isabel Pins auf die wesentliche Form reduziert wurden. Sie lassen sich aufklappen, und man kann das Tier, das darin wohnt, in Ruhe betrachten, die eigene Idee und Vorstellung bestätigen oder erweitern.
Auch hier funktioniert das entdeckende Bilderbuchlesen über das Betrachten des Abstrakten, das sich erst in der Auseinandersetzung und in der Vorstellung zum Konkreten entwickelt. Es ist ein Entdecken, das sich über die Betrachtung von Verfremdungen vollzieht und den Betrachter über das Rätseln und Erahnen in das Vorstellen führt. Und das Tier in unserer Vorstellung, das sich beim Öffnen der Bilderbuchklappe konkretisiert, hat vielleicht deshalb einen ganz besonderen Charme, weil es erneut zum Verweilen und zur Bildbetrachtung einlädt.

»Hast du meine Schwester gesehn?« oder: Vom frühen Theaterspielen
Das Aufklappen, das Hin- und Herklappen ist auch in Joke van Leeuwens Bilderbuch ein wichtiges Stilmittel, durch das Verfremdung, Verwandlung und Entdeckung initiiert werden und helfen, die Geschichte entstehen zu lassen. In »Hast du meine Schwester gesehn?« ist ein kleiner Junge mit seinem Kuschelhasen auf der Suche nach seiner Schwester und fragt auf jeder Seite erneut nach ihr. Es ist eine Suche zwischen Ernst und Spiel, zwischen dem Alltag im Leben eines kleinen Kindes und dem Theaterspiel größerer Kinder. Suchen, Finden und Entdecken werden auf drei Ebenen initiiert und angeregt. Auf der Ebene des Theaterspiels größerer Kinder für Kleine, auf der Ebene des frühen Versteckspiels kleiner Kinder und auf der Ebene des Formen-spiels.
Der Junge steht vor einer Mauer, die jeweils fast zwei Drittel der Seite einnimmt und seine Welt von der der älteren Kinder trennt. Gleichzeitig dient die Mauer den älteren Kindern als Theaterraum.
Der kleine Junge, der mit großem, nur knapp mit Haar oder Käppi bedecktem Kopf und weißem Schal zur stilisierten Kunstfigur wird, ist Teil des Spiels der größeren Kinder. Er geht an der Mauer entlang, sucht seine Schwester und begegnet bizarren Figuren. Er sieht nur die Köpfe. Den Rest stellt er sich so vor, wie es die Kinderzeichnungen auf der Mauer von Mal zu Mal immer wieder darstellen. Er taucht also nur punktuell in das Theaterspiel ein. Immer wieder nimmt er die Suche nach seiner Schwester auf, ruft über die Mauer, fragt nach ihr und beschreibt sie auf jeder Seite etwas mehr. »Sie ist größer als ich und hat blaue Augen«, erklärt er zum Beispiel einem grünen, dinosaurierartigen Kopf mit roten Augen.
Klappen wir die geteilte Seite, die Mauer, zur Seite, sehen wir weder, wie erwartet, einen über die Mauer schauenden passenden Fortsatz der Figur, weder eine Konkretisierung der gezeichneten Vorstellung noch die große Schwester. Wir finden vielmehr das erfragte Merkmal in unerwarteten Szenen und Bildern. Wir sehen die blauen Augen der Schwester, ihre Jacke mit Taschen, die gelbe Mütze oder die Schuhe mit Schnürsenkeln — überdimensioniert und in die Form einer Verkleidung transformiert. Die Jacke erscheint als riesengroßer Mantel mit Taschen voller Spielzeug, eine mächtige Figur umhüllend. Die gelbe Mütze bietet mindestens acht Tieren Unterschlupf, wie wir an ihren Beinen, Hufen und Pfoten erkennen können. Auch die Schuhe mit Schnürsenkeln werden riesengroß inszeniert, so dass sie wie ein Boot wirken.
Es wird also immer nur zum Teil gezeigt, was der Junge sucht und benennt. Die Attribute, die seine Schwester erkennbar machen könnten, erscheinen, nie jedoch sie selbst. Bis zum Schluss bleibt die Schwester verborgen. Aber schließlich wird sie gefunden, und die Freude an der Entdeckung ist groß —ist sie doch existentiell für den kleinen Jungen. Überrascht?

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Die Bilderbücher:
Delebecque, F.: Tiere auf dem Bauernhof. Beltz & Gelberg, Weinheim und Basel 2008
Kamm, K.: Das runde Rot. Bajazzo Verlag, Zürich 2003
Leeuwen, I. van: Hast du meine Schwester gesehn? Gestenberg Verlag, Hildesheim 2008
Pin, I.: Ein Regentag im Zoo. Bajazzo Verlag, Zürich 2006

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