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Wenn die Zeit stehen bleibt… Jens Thiele

Bilderbücher von Jens Thiele

Text: Kirsten Winderlich

In seinen Bilderbüchern erzählt Jens Thiele Geschichten von Menschen, die in Bedrängnis geraten sind, in innere Not und Verzweiflung. So erfahren wir von einem Jungen, der spürt, dass er mit seinem individuellen So-Sein, insbesondere mit seinem geschlechtsuntypischen Verhalten und Interesse in seiner Umwelt auf Abneigung und Aggression stößt. In einem zweiten Bilderbuch lernen wir einen Jungen kennen, der an der Trennung seiner Eltern verzweifelt und sich nichts sehnlicher wünscht, als die Zeit anzuhalten, damit alles beim Alten bleibt. In seiner Interpretation des »Erlkönigs«, Goethes Ballade von 1782, macht Thiele die Angst und Panik eines fiebernden und sterbenden Jungen erlebbar und stellt diesem Leiden die Verzweiflung des Vaters zur Seite, der die Wahrnehmung des Jungen nicht teilen und ihm nicht helfen kann.
In allen Bilderbüchern Jens Thieles treffen wir auf Menschen, die inmitten berstender Landschaften und zerklüfteter Innenräume den eigenen Gefühlen nachgehen und dem inneren Erleben nachspüren. Das Besondere dieser Bilderbuchgeschichten ist, dass das innere Erleben und Fühlen nicht nur mit Worten wie traurig, angstvoll oder verzweifelt begriffen werden kann, sondern vielmehr ein Erzählen braucht, das sich zwischen Bild und Text entfaltet und allenfalls dazwischen greifbar wird.
Die Menschen, von denen Jens Thiele erzählt, bewegen sich in einem Taumel von Gefühlen. Sie fühlen sich hin- und hergerissen und in ihrer emotionalen Situation unsicher. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass die bizarre Kleidung der Figuren wie eine schützende Behausung wirkt. Kleidung ist hier aber nicht nur ein Bild für eine bergende Hülle, in die sich die Protagonisten zurückziehen, sondern auch für deren bedrängte Situation. So verweisen expressive Haltungen auch auf die Kleidung als beengende und fesselnde Körperschicht, aus der man sich notgedrungen herausschälen und befreien muss.
Was sind das für Geschichten, die eine schwierige Seite des inneren Erlebens so offensichtlich thematisieren? Und was könnte Kinder an diesen besonderen Bilderbüchern interessieren?

Jo im roten Kleid
In der Geschichte »Jo im roten Kleid« erzählt Jens Thiele von einem Jungen, der sich selbst entdeckt, seine »weiblichen« Seiten aufspürt, ihnen nachgeht und Gestalt gibt. Im roten Kleid wird er nicht nur ausgelacht, sondern auch körperlich brutal angegangen. Ein Gespräch zwischen Vater und Sohn schildernd, sensibilisiert Thiele den Betrachter für die besondere Situation des Jungen auf der Suche nach sich selbst. Beide sitzen einander gegenüber, dargestellt durch Scherenschnitte auf einer schwarzen Linie, die entsprechend der Dramaturgie der Geschichte wie eine Mauer Halt gibt oder zum »Tanzseil« wird.
Den größten Teil der Bilder in dieser Geschichte wie auch in den anderen Bilderbüchern Thieles machen flächenhafte Collagen aus Scherenschnitten, Farbrissen, Skizzen, Stofffetzen, Fotografien und kunsthistorischen Zitaten aus, in Schwarz-Weiß mit nur wenigen Farbelementen. In diesem Bilderbuch sticht das Rot hervor. Jo will sich durch sein rotes Kleid in eine Prinzessin verwandeln, eine Hauptrolle in einem Film gewinnen.
Die Fantasie des Films spielt in dem Bilderbuch noch eine weitere Rolle. Denn alles, was Jo passiert, was er erlebt, fühlt und erleidet, wird von Scherenschnitt-Kopfreihen flankiert und erinnert so an ein Publikum im Kino oder Theater.
Es geht jedoch um mehr als das Verkleiden oder das Spiel vor einem Publikum. Es geht um den fragilen Prozess eines Jungen, seiner selbst gewahr zu werden — und zwar trotz aller schmerzhaft bewussten Widerstände der Umwelt. Das Scherenschnittkopf-Publikum verweist deshalb auch nicht nur auf das Kino oder Theater und seine spezifischen Rezeptionsästhetiken. Es macht uns Betrachter zu Begleitern, Mitwissern und Mitverantwortlichen im Prozess der Selbstfindung des Jungen. So müssen wir uns positionieren, wenn Jo das rote Kleid brutal vom Leib gerissen wird.
Obwohl Jo sein individuelles So-Sein abwehrt, gibt der Junge nicht auf. Die am rechten Bildrand aus der Szene stürmenden, fragmentarisch angedeuteten Jünglinge vermitteln ganz offensichtlich zunehmendes Selbstbewusstsein im Prozess der Identitätsfindung. Ohne rotes Kleid tritt Jo mit einem klassischen Jünglingstorso auf und macht sich mutig in eine neue Welt auf, in der er sich mit einem roten Kleid zeigen kann, »das noch viel schöner ist als das alte«. Und dann passiert es: Jo zeigt sich auch außerhalb seiner Fantasiewelt oder der des Films und tritt selbstbewusst auf die Straße, damit alle ihn sehen.
Den Selbstfindungsprozess Jos, seine Entwicklung, zeichnet Thiele am Schluss der Geschichte noch einmal mit einer Reihe von Schattenbildern nach. Jos Kopf ist in diesen Scherenschnitten klar zu erkennen. Körperhaltungen und Bewegungen verweisen hingegen auf die Tänzerinnen von Edgar Degas, nehmen von Bild zu Bild Anteile der Tänzerinnen auf und machen so deutlich, dass Jos Bewegungslust ein Weg durch innere und äußere Widerstände vorausging.

Der Junge, der die Zeit anhielt
Ein Scherenschnitt als neues Gegenüber macht auch in der folgenden Bilderbuch-geschichte auf eine Wende im eigenen inneren Erleben aufmerksam und deutet auf einen für den Protagonisten positiven zukünftigen Verlauf. Der Junge steht vor der tanzenden Silhouette eines Mädchens, das ihm in seiner verzweifelten Situation half, in die Zukunft zu blicken und neue Freunde zu gewinnen.
Doch bevor es zu diesem Wandel in seiner Gefühlswelt kam, passierte folgendes: »Als Anna am Morgen aufwachte und aus dem Fenster schaute, wunderte sie sich: Kein Wind bewegte die Blätter der Bäume, kein Vogelgezwitscher drang an ihr Ohr. Die Welt war still und reglos. Ein Radfahrer saß auf seinem Fahrrad, kam aber nicht von der Stelle, und ein kleiner Hund stand unbeweglich auf der Wiese.« So beginnt die Geschichte vom »Jungen, der die Zeit anhielt«.
Wir folgen den Gedanken eines sensiblen, empfindsamen Mädchens, das spürt, dass sich etwas verändert hat. Von dem Jungen ist auf den ersten beiden Doppelseiten noch nichts zu hören und zu sehen. Vielmehr scheint sich die ganze Welt verändert zu haben und irgendwie erstarrt zu sein. Anna steht an einem Fenster und hält sich am Fensterkreuz fest. Wie aufmerksam und ernsthaft sie die Veränderungen draußen wahrnimmt, machen ihre Körper‑
haltung und ihre Augen deutlich. Die monokelartige Überzeichnung des rechten Auges verstärkt ihren forschenden Blick, ihre besondere Wahrnehmungsfähigkeit.
Überraschenderweise sehen wir das Geschehen, das sie betrachtet, hinter ihrem Rücken auftauchen. Inneres Fühlen und Wahrnehmen der Außenwelt werden im Bild ineinander verschoben und dadurch in der Zuordnung zu Außen oder Innen in Frage gestellt. Gehört das, was ich wahrnehme, zur Umwelt oder zu mir? Ist das, was ich erlebe, auch außerhalb meiner selbst für andere wahrnehmbar? Anna lauscht weiter auf das, was außerhalb ihrer selbst und gleichzeitig mit ihr passiert. Sie tritt aus einer Tür, den Kopf im Nacken, und schaut in den Himmel, wo sich ein Unwetter zusammenbraut. Die Figuren der vorangegangenen Seite treten in den Hintergrund und verschmelzen in ihrer Silhouettenhaftigkeit mit ihm. Anna sinnt nach.
Das Bild zeigt einen nach außen gerichteten Blick. Der Text erzählt jedoch eindeutig von einer Wahrnehmung, die auf den eigenen Leib gerichtet ist: »Anna wollte zur Tür eilen, um nachzuschauen, was passiert war — doch sie konnte ihre Beine kaum bewegen. Eine unsichtbare Hand schien jeden Schritt festzuhalten, jede Bewegung verlief wie in Zeitlupe.« Da hört sie es plötzlich. Ein leises Weinen. »Auf der Treppe an der alten Steinmauer saß ein Junge, den Kopf auf die Knie gebeugt. Der Junge hatte sie bemerkt; er hob langsam seinen Kopf und schaute sie mit leerem Blick an.«
Anna setzt sich zu dem Jungen, und er beginnt zu erzählen, dass er am Tag zuvor mit seiner Mutter in die Stadt gezogen sei. Sein Vater sei nicht mitgekommen. Auch seine Freunde habe er zurücklassen müssen. »Da hatte er sich gewünscht, dass die Zeit stehen bleiben würde.« Und heute Morgen war sein Wunsch in Erfüllung gegangen.
Das Bild zeigt einen Menschen, in zusammengefallener Haltung auf einem Sessel sitzend, der — mit einem Tuch überhangen — wie zum Auszug bereitsteht. Ein zweiter Sessel ist bereits leer. In der Szene daneben liegt der Junge im Bett. Wir sehen nur seinen Kopf, eine Fotografie, auf der das Gesicht des Jungen derart verfremdet erscheint, dass sein Ausdruck versteinert wirkt.
»Anna spürte, dass er mit seinen Gedanken weit weg war. Sie berührte ihn sanft am Arm.« Annas differenzierte Wahrnehmung der Außenwelt erweitert sich. Sie fühlt sich in die emotionale Situation des Jungen ein und schlägt ihm vor, die Zeit einfach zurückzudrehen, damit er wieder fröhlich wird.
Der Junge ist jetzt nicht mehr allein mit seinem Schmerz. Dicht steht das Mädchen bei ihm, und gemeinsam tauchen sie nun in die Bilder der Vergangenheit ein. »Sie sahen einen Spielplatz, auf dem der Junge mit seinen Freunden Fußball spielte. Sie sahen die Mutter, die gedankenverloren aus dem Fenster schaute. Sie sahen den Vater des Jungen, der wortlos das Haus verließ.«
Das Bild, das diese Erinnerungen begleitet ist, horizontal geordnet. Die Erinnerungen lasten gewissermaßen auf der gegenwärtigen Alltagssituation des Jungen. Anna, ihm immer noch ganz nah, spürt diese Belastung und überlegt, ob sie die Zeit nicht auch nach vorn drehen könnten.
Die Collage der folgenden Bildseite ist jetzt in der oberen Hälfte radial angeordnet. Neue Bilder tauchen auf, »Bilder, in denen sie beide um die Wette liefen, lachten und sich an den Händen hielten. Auch eine Geburtstagsfeier zog vorbei: Der Junge hielt stolz eine neue Uhr in der Hand, die er geschenkt bekommen hatte. Hinter einer dicken Wolke tauchte ein Mann auf und lächelte«.
Begleitet werden die Bildseiten von kleinen Landschaftscollagen unter den Texten, die wie Seismographen der jeweiligen Gefühlslage des Jungen wirken. Dabei sind sie nie auf ein eindeutiges Wetterbild zu reduzieren, sondern vermitteln vielmehr eine Ahnung von Gefühl und Stimmung. Glaubten wir, auf den vorangegangen Collage-Images einen stillen See zwischen Schneebergen und grünem Wald zu erkennen, folgen Landschaftscollagen, die Regen, Unwetter, Nacht, Vulkan und Eis assoziieren lassen. Während die Bilder der Zukunft langsam »davontanzen«, ist dem Text ein Wolkenbild unterlegt, aus dem ein zarter Streifen blauen Himmels und ein Sonnenstrahl hervor scheinen.
Der Junge ist wieder hoffnungsvoll. Die Collage auf der rechten Seite zeigt sein Gesicht zwar zur Hälfte immer noch im Schatten, aber seine Augen sind jetzt eindeutig auf Anna gerichtet, die sich ihm zuwendet und ihn vertrauensvoll berührt. »Sie saßen lange Zeit eng nebeneinander. Dann spürten sie, dass ihre Körper ganz leicht wurden. Sie fühlten es zuerst in den Fingerspitzen und dann in den Füßen. Die Luft vibrierte, und über ihnen im Baum sang ein Vogel.«
Wir sehen den Jungen und das Mädchen ausgelassen miteinander tanzen. Ein Fahrradfahrer winkt ihnen zu, und ein Hund lässt sich von der Bewegtheit der Kinder anstecken. Die Landschaftscollage erinnert an Morgenröte. So ist es nicht erstaunlich, dass Annas Mutter aus dem Haus ruft, das Frühstück sei fertig. Ein neuer Tag beginnt. Mit dem Hund und zwei Menschen, die aus den Häusern sehen, blicken wir Anna und dem Jungen nach, die sich Hand in Hand in eine neue Zeit bewegen.
Die Collagen Jens Thieles geben Einblicke in die komplexen Innenwelten einzelner Menschen und vermitteln gleichzeitig unterschiedliche Wahrnehmungen der Welt. Wie in Filmsequenzen erhalten die Betrach ter die Möglichkeit, der Geschichte als linearem Handlungsstrang zu folgen. Gleichzeitig aber inszeniert Thiele über seine Collagen eine Atmo- sphäre des Fühlens und Erlebens der Protagonisten und initiiert damit Momente der Kontemplation im Prozess der Betrachtung.

Erlkönig
Verfolgen wir die Sequenzen mit dem Vater, fühlen wir uns durch die Bilder Thieles zu Johann Wolfgang von Goethes »Erlkönig« gehetzt und getrieben. Der unaufhaltsame Verlauf der Geschichte und des Sterbens des Jungen wird über eine dem Text untergeordnete Bilderreihe unterstrichen. Auf der sich von Seite zu Seite wiederholenden Pinselstrichlinie galoppiert das Pferd, auf dem der Vater mit dem Sohn reitet. Wir wissen, irgendwann kommt das Ende. Die Gewissheit, dass die Geschichte von Vater und Sohn tödlich ausgeht, verdichtet sich von Bild zu Bild. Auf den ersten Seiten sehen wir ein Kind, das sich nicht mehr selbst aufrecht halten kann. Ob seine Augen offen oder geschlossen sind — der Junge kann dem Erlkönig, der ihm Angst macht und ihn bedroht, nicht entrinnen.
Obwohl die Gestalt des Erlkönigs in der Wahrnehmung des Jungen die gesamte Landschaftsumgebung prägt, kann der Vater die Angst seines Kindes nicht teilen: »Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.« Als Pendant zur Abbildung des Kindes ist die Seite des Vaters fast leer gehalten, der obere rechte Bildrand ist in Nebel getaucht.
Der Erlkönig ist mit seinen Augen für den Jungen immer anwesend, in denen sich die Landschaft spiegelt und in die Vater und Sohn hineinzugeraten scheinen. Zwischen den beängstigenden Landschaftsbildern, in denen stets der bedrohliche Erlkönig steckt, tauchen immer wieder anziehend farbige Szenen auf, in denen Figuren mit ausschweifenden Gesten locken und verführen. Das Fatale ist, dass der Vater nicht hören und nicht sehen kann, was den Jungen ängstigt und bewegt. »Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? — Mein Sohn, »ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt, Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! — mein Sohn, ich seh es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau.«
Als der Junge sich vom Erlkönig fast verschlungen glaubt, ist das Bild in zwei Collagen geteilt. Der Vater scheint zu spüren, dass sein Sohn sich bereits verabschiedet hat. »Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind, er hält in den Armen das ächzende Kind, erreicht den Hof mit Müh und Not; in seinen Armen das Kind war tot.« Im Bild reitet der Vater direkt auf eine Hauswand zu, auf die sich der Erlkönig projiziert. Das letzte Bild zeigt den Sohn, eingetreten in das Reich des Erlkönigs, ohne den Vater. In einer Himmel-Wolken-Wasserlandschaft, die Rücken dem Betrachter zugewendet, tauchen Kinder auf und fordern den Jungen zum Ballspiel auf.
Was könnte Kinder an den Bilderbüchern Jens Thieles interessieren? Die Herausforderung einer unheimlichen Wahrnehmung, das Ernstnehmen des Erlebens zwischen Alltag und Fantasie, das verborgene Eigene?

Bilderwelten und ihre Vermittlung

Ein Gespräch zwischen Kirsten Winderlich (K.W.) und Jens Thiele (J.T.) gibt Einblick in die Arbeitsweise des Autors, verdeutlicht seine Haltung zum Zeitgenössischen Bilderbuch und seine Position zum Umgang mit Bilderbüchern in Kindergarten und Schule:

K.W.: Du bist bekannt für deine Theoriebildung zum Bilderbuch. Seit einigen Jahren machst du selbst Bilderbücher. Wie bist du dazu gekommen?

J. T.: Es gab keinen Plan, von der Theorie zur Praxis zu wechseln. Vielmehr entstand in meinem Kopf eher spielerisch die Idee zu einer Geschichte, die sich dann Stück für Stück, Bild für Bild entwickelte. Zunächst war da nur ein bestimmtes Bild: Ein Junge steht im Kleid seiner Mutter vor dem Spiegel. Ich malte dieses erste Bild noch mit Ölfarben. Nach langen Jahren der Vernachlässigung meiner eigenen künstlerischen Arbeit war das für mich der Einstieg in das Projekt »Jo im roten Kleid« und zunächst eine ganz persönliche Bereicherung, wieder bildnerisch zu arbeiten, eine Herausforderung, verschüttete Fähigkeiten wiederzuentdecken. An eine Veröffentlichung dachte ich damals nicht. Irgendwann hatte es mich dann aber gepackt, und ich wollte daraus ein Bilderbuch machen.

K.W.: Wie entstehen deine Bilderbücher? Kannst du etwas über deine Arbeitsweise erzählen?

J. T.: Ich arbeite einerseits sehr planerisch, andererseits absolut assoziativ und spontan. Konzeptionell muss eine Bildgeschichte für mich durchdacht sein, bevor ich mich an das Projekt heranmache. Aber der Impuls zu einem Buch kann sich zufällig ergeben. Es kann ein Satz, ein Traum, eine Beobachtung oder eine Erinnerung sein. Entscheidend ist für mich das spannungsvolle Verhältnis von Bild- und Textebene. Die eigentliche Geschichte muss sich dazwischen abbilden.
Auch bildnerisch arbeite ich eher spontan. Es gibt zwar vorher angelegte Skizzen, ein Bildkonzept, aber beim Collagieren spielen Zufall und Assoziation eine große Rolle. Das Zusammenfügen mehrerer fremder Bildelemente kann mich in eine ganz neue Richtung bringen, und ich folge ihr dann meist. Die Collage ist freilich eine extrem zeitaufwändige Technik, auch wenn allgemein das Gegenteil vermutet wird. Sie ist verführerisch, da man scheinbar schnell zu einem Ergebnis kommt. Aber das Gegenteil ist der Fall: Bis sich zum Beispiel bei einer Figur ein ganz bestimmter Gesichtsausdruck herausbildet, experimentiere ich stundenlang. Ich klebe die Einzelteile eines Bildes erst sehr spät zusammen und versuche bis zuletzt, offen zu bleiben für Überraschungen.

K.W.: Kunsthistoriker, Kunstpädagoge und Künstler hast du die Chance, dich dem Erleben von Kindern und der Kunst aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu nähern. Inwieweit fließen diese vielfältigen Zugänge in die Gestaltung deiner Bilderbücher ein?

J. T.: Ich habe kein bestimmtes Bild vom Kind im Kopf, weder aus kunstwissenschaftlicher, kunstpädagogischer noch aus künstlerischer Perspektive. Aber die Erfahrungen aus den verschiedenen Fachgebieten kommen in dem Wunsch zusammen, die Betrachter, auch kindliche, durch Bilder zu berühren, sie hineinzuziehen in Bilder und deren besondere Wirkungsweisen zu erkunden. Ich möchte Kinder neugierig machen auf Bilder, auf ihre Machart, ihre Inszenierung.
Meine Bilder brauchen Zeit zum Betrachten. Wenn sich jemand diese Zeit nimmt, wäre ich in allen drei Rollen sehr zufrieden.

K.W.: kann mir vorstellen, dass viele Erwachsene, gerade auch Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen, deine Bücher — wie viele andere zeitgenössische Bilderbücher — als nicht kindgerecht einschätzen. Hast du Erfahrungen, wie Kinder deine Bücher rezipieren?

J. T.: Der Begriff des »Kindgerechten« ist ein missverstandener und gern missbrauchter Begriff. Welches Bild ist »gerecht« für welches Kind? So, wie sich Gesellschaft und ihre Kultur wandeln, wandelt sich auch der Kindheitsbegriff.
Gerade über die Wirkung von Bildern auf Kinder gibt es kaum wissenschaftlich begründete Forschungsergebnisse. Insofern sollte man vorsichtig sein mit diesem Argument. Die Akteure der Kinderbuchverlage meinen im Prinzip nichts anderes als »ökonomisch nicht ertragreich«, wenn sie das so genannte Kindgerechte im Bilderbuch vermissen. Solche Positionen bringen das Bilderbuch aber nicht voran, sondern zementieren nur alte Klischees.
Kinder und Jugendliche reagieren auf meine Bilderbücher, die auf dem Markt in der Tat als nicht »kindgemäß« gelten, mit viel Ernsthaftigkeit und Interesse, soweit ich das beobachten konnte. Ich könnte es auch akzeptieren, wenn Kinder meine Bücher nicht anschauen möchten. Ob sie deswegen nicht »kindgemäß« sind, ist eine ganz andere Frage.

K.W.: Je künstlerischer Bilderbücher sind, desto lauter wird der Ruf nach Vermittlung und didaktischer Aufbereitung. Wie siehst du den  der Vermittlung? Welche Rolle sollte das Bilderbuch in Kindergarten und Grundschule spielen?

J. T.: Wer Kinder und Jugendliche an heutige Bilderwelten heranführen will, muss auch über Strategien der Vermittlung nachdenken. Die Bildkultur besteht nicht nur aus trivialen Angeboten, und nicht jedes Bilderbuch erschließt sich von allein. Erzieherinnen und Lehrer spielen eine zentrale Rolle auf dem Weg zur Bildkompetenz. Sie müssten über eine breite und professionelle Ausbildung im Bereich der Bildwissenschaften und Kunstvermittlung verfügen, um Heranwachsende an der Bildkultur teilhaben zu lassen.
Solange Pädagogen ihre eigenen Vorlieben zum Maßstab machen, enthalten sie Kindern, ganz ungewollt, die Möglichkeit zur breiten Orientierung innerhalb des ästhetischen und literarischen Angebots vor. Darauf aber kommt es an: Kinder für die Vielfalt und Komplexität der Bilderwelten zu interessieren, ihnen die Augen zu öffnen für neue, unbekannte ästhetische Ideen und Konzepte und sie, Schritt für Schritt, zur selbst begründeten Auswahl zu ermutigen.

Jens Thiele, Prof. Dr. phil., studierte Freie Grafik und Kunstpädagogik an der Kunstakademie Braunschweig und Kunstwissenschaft in Göttingen. Er promovierte über »Das Kunstwerk im Film«, arbeitete als Kunsterzieher in Göttingen und als wissenschaft-licher Assistent an der Bergischen Universität Wuppertal, bevor er Professor für Visuelle Medien an der Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg wurde. Dort war er bis zu seiner Emeritierung 2008 Direktor der Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur. Sein Forschungsinteresse gilt der Geschichte, Theorie und Ästhetik visueller Medien, ins besondere des Spielfilms und des Bilderbuchs.​

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Bilderbücher

Thiele, J.: Jo im roten Kleid. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2004
Thiele, J.: Der Junge, der die Zeit anhielt. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2006
Goethe, J. W. von: Erlkönig. Mit Bildern von Jens Thiele. Verlag publication PN°1, Bibliothek der Provinz, A-Weitra 2007