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Stian Holes Traumwelten

Von geheimen Orten, Wasserlilien und zarten Gefühlen

Text: Kirsten Winderlich

„Noch nie habe ich ein Kind gehört, das das Wort Kitsch oder einen ähnlichen Begriff benutzt hätte. Ich glaube, dass Kitsch in der Kinderperspektive nicht existiert. Wenn also heute jemand sagt, meine Traumsequenzen seien nahe am Kitsch, macht mir das keine Angst mehr.“ (Stian Hole 2016)

Zeitgenössische Bilderbücher können aufgrund ihrer Geschichten zwischen Bild und Text auf besondere Weise berühren und von Gefühlen erzählen, die so schwer in Worte zu fassen sind. Der mehrfach ausgezeichnete norwegische Künstler Stian Hole ist ein Meister dieses Genres. Er darf einfach in keiner Schule oder Kita fehlen!

Bilderbücher von Stian Hole

Stian Hole erzählt Geschichten von Kindern und Gefühlen. Es sind die großen Gefühle wie Liebe, Angst, Wut und Trauer, die ihn interessieren, und die er in seinen Bilderbuchgeschichten zum Erscheinen bringt, ohne diese im Text plakativ zu benennen. Vielmehr scheinen es die Erlebnisse der Protagonisten, ihr Denken und Fühlen sowie die subtilen Bilder und poetischen Texte zu sein, die uns involvieren. Holes Bilder zeichnen sich durch eigenwillig digital bearbeitete Montagen aus Fotografien, Zeichnungen und Gemaltem aus. Ein Wechselspiel von realistischen Motiven, surrealen Verfremdungen, ungewöhnlichen Perspektiven sowie Verschiebungen der Größenverhältnisse lassen uns in Traumwelten eintauchen. „Ich nenne es: ein Arbeiten an ‚übergangslosen traumähnlichen digitalen Collagen’. Ich möchte nicht, dass die Werke wie Fotos oder wie die Wirklichkeit aussehen. Ich versuche, eine traumähnliche Wirklichkeit herzustellen. So spiele ich mit verschiedenen Elementen, sammle sie und füge sie zusammen. Ich arbeite digital mit Schichten und vielen Einzelteilen, die ich hin- und herbewege, vom Maßstab verändere oder drehe. Und beobachte, ob etwas Interessantes passiert. Mein Ziel ist diese traumartige Wirklichkeit“ (Hole 2016), so Stian Hole über seine künstlerische Arbeitsweise.
Die poetischen Texte in Holes Bilderbüchern, meist über geschmückte Initialen in die Bilder integriert, erzählen nie das Gleiche wie die Bilder. Vielmehr konkretisieren sie das Atmosphärische der Bilder. So nehmen wir in den Texten aus personaler Erzählperspektive an der Handlung und den Gesprächen der Protagonisten teil, erfahren, was diese wahrnehmen, konkret empfinden und denken. Dabei führen uns die Texte ein in die spezifische Sicht von Kindern auf die Welt. Die Beobachtung von Ameisen, die gemeinsam einen Wassertropfen tragen, ist dabei genauso wichtig, wie das Nachdenken über den Ursprung der Welt und die Unendlichkeit des Weltalls. Das Entdecken von Spuren im Schnee und das Rätseln darüber ist dabei nicht unbedeutender als die Empfindung, dass alles größer wirkt, wenn man mit einem Menschen zusammen ist, dem man sich nah fühlt.

„Garmans Geheimnis“

Exemplarisch soll das Bilderbuch „Garmans Geheimnis“ (2012) vorgestellt werden, das die Annäherung zwischen zwei Kindern und die damit verbundenen Gefühle thematisiert. Anknüpfend an ein Verständnis von Kitsch, das Kitsch in Anlehnung an Agnes Heller (1980) als Involviertsein begreift, soll gezeigt werden, auf welche Weise Stian Hole das Involviertsein der Kinder in Bild und Text vermittelt und dabei gleichzeitig uns als Betrachter in das Erleben der Kinder einbezieht.

Über Garman

Viele werden Garman bereits kennen und lieben gelernt haben und verfolgen bei seinem „Größerwerden“ die sich verändernde Perspektive auf die Welt. So hat er uns bereits im Alter von sechs Jahren durch seine feinsinnige und gleichzeitig reflexive Beobachtungsgabe zu den generationenübergreifenden Themen Verlust und Tod berührt. In „Garmans Sommer“ (2009) spürt er diesen in Auseinandersetzung mit seinen eigenen Ängsten hinsichtlich des nahenden Schuleintritts nach. Ein paar Monate später werden für Garman die Beziehungen zu den anderen immer wichtiger. In dem Bilderbuch „Garmans Straße“ (2011) erkennt er, dass Menschen ganz anders sein können als unser Vorurteil sie manchmal spiegelt. Garman lernt, sich gegen scheinbar Stärkere zu behaupten sowie für eigene Fehler einzustehen. In dem Bilderbuch „Garmans Geheimnis“, lässt er sich, mittlerweile neun oder zehn Jahre alt, von Johanne durch den Wald zu einem geheimen Ort führen. Die Metallteile, die sich dort zwischen dem Farnkraut verstecken, deuten die beiden einhellig als Raumkapsel. Irgendwann scheint diese mit einer ähnlichen Plötzlichkeit, wie die Gefühle, die sich bei den beiden zaghaft aber unaufhaltsam zeigen, aus dem Weltall auf die Erde herabgestürzt zu sein. Hat Garman sich vor ein paar Jahren vor Johanne und ihrer Zwillingsschwester Hanne lieber in Acht genommen, konstatiert er heute, wie „gleich und doch verschieden“ (Hole 2012, 6) die beiden sind und fühlt sich zunehmend Johanne zugeneigt. Die kleine Lichtung wird zu Garmans und Johannes Geheimplatz, die Raumkapsel zu ihrem Haus. Von hier aus philosophieren sie über die unendliche Weite des Weltalls. Und erfüllt von einem intensiven Naturerleben genießen sie sichtlich die gegenseitige Nähe und Vertrautheit.

„Die Zwillinge sind gleich und doch verschieden, denkt Garman“

Wie zeigen sich nun die zunehmenden gegenseitigen Gefühle Garmans und Johannes füreinander im Zusammenspiel von Text und Bild?
Aus dem Wimmelbild, das an Pieter Bruegels „Kinderspiele“ von 1560 erinnert, wird ein Detail herangezoomt, auf dem wir Garman, hinter einem Baum stehend, entdecken können. Er beobachtet die Zwillinge, deren Köpfe sich durch verfremdende Drehung dem Betrachter zuwenden, während sich der Rest des Körpers auf Garman zubewegt. Die Zwillinge unterscheiden sich in ihrer äußeren Erscheinung nur geringfügig durch Kleidung, Farbe der Haargummis sowie im Gesichtsausdruck. Sie sind selbstbewusst und stark. Und sie sehen aus wie „weiße Zirkuspferde“, denkt Garman und erinnert sich dabei an den Nationalfeiertag, an dem die Zwillinge in weißen Uniformen vorangehen, im Festzug noch vor der Blaskapelle und dem Bürgermeister „durch das Schultor marschieren, die Hauptstraße hinuntergehen und den Marktplatz überqueren“ (Hole 2012, 8). Neben weiteren historischen Figuren baut Hole Elvis Presley prominent und zentral in das Bild ein. Der letzte Satz auf der rechten Seite führt Garman „aus dem Bild“ bzw. aus seiner Erinnerung hinaus ins Hier und Jetzt, so „spürt Garman eine Hand auf seiner Schulter“ (vgl. ebd., 9). Ein wenig wie auf der Flucht vor Hanne und Roy, dem „King“, der uns bereits als Unheilanstifter aus „Garmans Straße“ bekannt ist, und der hier konterkarierend zur Darstellung Presleys von Hole mit einer Fernwaffe in Form einer Steinschleuder ausgestattet wird, huschen Garman und Johanne durch den Park in den Wald.

„Auf dem Weg in den dunklen Wald wird der Pfad immer schmaler“

Johanne will Garman ein Geheimnis zeigen. Die Aufmerksamkeit ist trotz des nahenden Geheimnisses ganz auf die Natur im Wegraum gerichtet. Vor dem Dunkelholz ranken zarte Blumen, wie Buschwindröschen, Glockenblumen und Stiefmütterchen. Neben Singvögeln können wir einen Schmetterling, ein Reh, ein Eichhörnchen und einen Igel entdecken, die ein Bild von Idylle auf die Spitze treiben und damit als Vorboten für die intensiven Gefühle, die Garman und Johanne füreinander entwickeln, gedeutet werden können. In diesem Sinne kann dieses Bild auch als Kitsch interpretiert werden, nämlich als Bild, dass uns in die Gefühle von Garman und Johanne involviert. Hinter dem Bach, am Rand einer Lichtung, schiebt Johanne die Zweige zur Seite. „Auf dem Waldboden zwischen dem Farnkraut liegen ein paar verbogene und rußverschmierte Metallteile.“ (ebd. 14)

Die Raumkapsel

In den kommenden Tagen wird dieser Ort zu Garmans und Johannes Geheimplatz. Er katapultiert sie gemeinsam als Raumkapsel ins Weltall und bietet ihnen gleichzeitig Gelegenheit und Schutz, einander näher zu kommen. Garman und Johanne haben nun ein Geheimnis, ein Geheimnis, an das Garman auch kurz vor dem Einschlafen noch gerne denkt, und in Anbetracht dessen er sich hin- und hergerissen fühlt, es seiner Mutter zu erzählen. Er entscheidet sich schließlich, sein Geheimnis nicht preiszugeben. Anstelle dessen fragt er seine Mutter, ob sie Geheimnisse habe. Die Mutter „zögert eine kurze Sekunde. ‚Das kann schon sein. Ich glaube, alle haben Geheimnisse’, sagt sie und malt ein Gesicht an die beschlagene Fensterscheibe“ (ebd. 24), das wie ein Schlüssel zu Garmans Traum und letztlich dem Höhepunkt der Geschichte fungiert. Garman gibt keine Antwort auf die Frage seiner Mutter, ob er Geheimnisse habe, sondern bewegt sich schwerelos gemeinsam mit Johanne im Weltall oder eben in ihrer eigenen Welt und „denkt an alles, wovon Mama und Papa nichts wissen“ (ebd. 27). Das Bild, das den Traum der Traumwelten darstellt, zeigt das Involviertsein im Sinne Hellers als „Figur“ in Form des Schwebens sowie der Unendlichkeit des Weltalls und damit auch der Ferne zur Realität der Alltagswelt.

Hanne

Wieder zurück in Alltag und Tag(t)raum treffen sich Garman und Johanne, sobald sich eine Gelegenheit bietet, im Wald. „’Hanne darf nichts von unserem Geheimnis erfahren’“ (ebd. 28), liegt Johanne irgendwann sehr am Herzen, Garman mitzuteilen, wohlwissend um die Zerbrechlichkeit ihrer zarten Gefühle füreinander. Anstelle von Blumen, Beeren und Singvögeln dominiert an dieser Stelle im Bild dichtes Laub von Eichen und Buchen. Und nach einem Regentag passiert es dann. Auf einer linierten Heftseite lesen wir, dass Hanne von Johannes Geheimnis weiß: „’Ich weiß, mit wem du im Wald zusammen bist.’“ (ebd. 32) Über der Initiale des Personalpronomens „Ich“ markiert eine Krone den Status der Zwillingsschwester. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass die obere Stockbettetage als Hannes Reich von militärischen Orden geschmückt ist, wohingegen Johanne ihre Bettstatt eine Etage tiefer mit einer Vielzahl an Kuscheltieren teilt. Doch Johanne wehrt sich und „tritt nach oben“. Wir sehen ihr dabei zu, wie sie der Schwester flüsternd aber bestimmt droht. Denn Johanne weiß, dass ihre Schwester für die kaputte Kristallvase der Urgroßmutter verantwortlich ist. So leitet die floral umrankte Initiale ihres „Ichs“ ein, was mit einem „Quitt“ besiegelt wird (vgl. ebd. 34). Hanne wird Johannes Geheimnis nicht verraten und umgekehrt wird Johanne über die Ursache der zerschlagenen Vase schweigen.

Tiefer im Wald an einem See

Johanne und Garman treffen sich weiter, immer wieder. Eines Tages gehen sie tiefer in den Wald und entdecken einen Waldsee. Sie ziehen Kleider und Schuhe aus und genießen das Schwimmen unter Wasser, das sich anfühlt wie ein Schweben im Weltall. Auch dieser Moment der Zweisamkeit wird begleitet von einem Wechselspiel von Naturerleben und plätschernd nachsinnenden Dialogen über scheinbar Belangloses. So nimmt Johanne die Beobachtung, dass die Wasserläufer sich so elegant wie Schlittschuhläufer über die Wasseroberfläche bewegen, zum Anlass, Garman zu erzählen, dass Hanne und sie eineiige Zwillinge seien, und konstatiert, dass sie trotzdem nicht gleich seien (vgl. ebd. 38).
Mittlerweile sind Garman und Johanne demnach so vertraut, dass sie nicht nur ein Geheimnis teilen, sondern sich auch Geheimnisse anvertrauen. Und sie sind glücklich. Hole zeigt Johanne im Porträt, in der Hand eine Wasserlilie, auf der sich ein Marienkäfer sonnt. Im Vergleich zum Beginn der Geschichte, in dem man sie kaum von ihrer Zwillingsschwester unterscheiden konnte, wirkt Johanne nicht nur gewachsen, sondern eigenständig selbstbewusst. Von daher überrascht es nicht, dass sie Garman küsst.

„Die Idee, dass sich Generationen beim Bilderbuchlesen treffen, mag ich sehr“ (Stian Hole 2016)

Die Bilderbücher von Stian Hole sind mehr als Unterrichtsgegenstand und Lesemotivation. Und dieses vielleicht gerade, weil sie über Gefühle erzählen und uns dabei emotional berühren und zum Nachdenken bringen. Eine didaktische Reduktion würde den Kern der Bücher zerstören. Es lohnt sich daher, über einen anderen Weg nachzudenken, die Bücher in den Unterricht zu bringen. Hole macht selbst einen vielversprechenden Vorschlag, denn er versteht das Bilderbuch auch als intergenerationellen Treffpunkt, d.h. als Aufforderung, Bilderbücher auch gemeinsam in der Klasse zu lesen und zu betrachten. Dabei bleiben seine Bücher eindeutig an die Kinder gerichtet. Nichtsdestotrotz adressieren sie an den „erwachsenen Leser eine Art Postkarte oder Mitteilung“ (Hole 2016). Auf diese Weise können Kinder und Erwachsene ins Gespräch kommen – auch über Gefühle.

Literatur

Heller, Agnes (1980): Theorie der Gefühle. Hamburg: VSA
Hole, Stian (2009): Garmans Sommer. München: Carl Hanser
Hole, Stian (2011): Garmans Straße. München: Carl Hanser
Hole, Stian (2012): Garmans Geheimnis. München: Carl Hanser
Hole, Stian (2016) im Gespräch mit Ute Wegmann: „Mein Ziel ist diese traumartige Wirklichkeit“. Deutschlandfunk, 12.11.2016 [Zugriff: 19.05.2018]