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Kintsugi

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Kintsugi
Issa Watanabe

Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer

Konzept der Bilderbuchwerkstatt: Kirsten Winderlich
Durchführung: Elisa Bauer und Helen Naujoks unter Mitarbeit von Gaspar Scholl Chafirovitch

Der Titel des Buches »Kintsugi« verweist auf eine japanische Technik der Restaurierung, bei der die Risse und Brüche durch das Auftragen einer Mischung aus Harz und Gold sichtbar bleiben. »Kintsugi« ist demnach nicht nur eine Praxis, bei der etwas zusammengefügt wird, sondern auch als eine Haltung zu verstehen, in der das Sichtbarlassen von Verletzung und Wunden auf etwas Neues verweist bzw. Neues zum Leben erweckt. In Anlehnung an die japanische Restaurierungskunst erzählt Issa Watanabe in ihrem Bilderbuch von der Unmöglichkeit eines spurenlosen Einklangs zwischen Menschen und Natur. Sie entfaltet ihre Parabel dabei entlang von drei gewaltigen Naturbildern. So hat sich der Protagonist, ein Hase mit menschlicher Kleidung, vom häuslichen Chaos in die Welt getrieben, in einer undurchdringlichen Pflanzenwelt, in einem eisigen Meer und einer unheimlichen Unterwasserwelt zu behaupten. Beim Blättern durch die Bilderbuchgeschichte können wir die vor durchgängig schwarzem Hintergrund leuchtend farbig kolorierten Zeichnungen wie einen Film betrachten.
Zu Beginn der Geschichte können wir ein auf der Lehne eines leeren Stuhles platziertes Vogelnest betrachten. Im Nest befinden sich ein Ei und ein Ölzweig, ähnlich dem, den die Taube in der Geschichte der Arche Noah im Schnabel trug. Auf der rechten Seite widmet die peruanische Künstlerin das Bilderbuch ihrer Tochter. Neben dem Gedicht von Emily Dickinson (1830-1886) auf der letzten Seite, sind es die einzigen Worte die die Bilderbuchgeschichte rahmen. Das sogenannte »Silent Book« nutzt für seine Geschichte jede Seite, jeden Bestandteil des Buches, und gibt dieser bereits auf dem Vorsatzpapier freien Lauf. Auf dem Titelblatt schiebt sich ein Hase in menschlicher Kleidung ins Bild. Er trägt zwei Porzellantassen, eine weiße und eine blaue, und steuert einen Tisch mit weißer Tischdecke an. Auf der folgenden Doppelseite wird diese zum Nährboden grüner Pflanzen, die gen Himmel wachsen. Behängt mit Alltagsgegenständen, wie etwa zahlreichen Behältern, Dosen, Kannen, Karaffen, einem Koffer, Kleidungsstücken und einer Uhr, erscheint die Szene wie ein Paradies in Balance zwischen Natur und Alltagskultur. Am anderen Ende des Tisches findet dieses über einen Ableger, der aus der Stuhllehne wächst, sein Gegenüber. Ein Vogel in rotem Federkleid hat auf diesem Platz genommen. Wie im Laufe der Geschichte deutlich wird, nimmt er die Rolle einer Schlüsselfigur ein: So ist er Beobachter, Begleiter und Seismograph.
Die zuvor vom Hasen hineingetragene blaue Porzellantasse hängt im Gezweig und eröffnet einen Dialog. Seite für Seite gerät nun die Ordnung zwischen den Pflanzen und Dingen aus den Fugen. Das schleichende, jedoch nicht aufzuhaltende, Erbleichen von Strauch und Vogel kommentiert der Hase mit ruckartigem Aufstehen. Das Zerbrechen der blauen Porzellantasse kann als Signal für den kommenden Niedergang der vermeintlich heilen Welt verstanden werden. Der Vogel, mittlerweile restlos weiß, ergreift die Flucht, zieht dabei die Tischdecke mit sich und bringt damit alle vorerst sorgfältig in den nicht mehr sichtbaren Pflanzen platzierten Dinge und Objekte zu Fall. Die nach dem Ölzweig ausgestreckte Hand des Hasen und die blutrot tropfende Kaffeekanne lassen das kommende Ausmaß der Katastrophe nur erahnen. Eine Bewegungssequenz zeigt, wie der Hase, mit ausgestrecktem Arm, den Hoffnung versprechenden Ölzweig in der Hand haltend, um sein Leben rennt und schließlich stolpert und bäuchlings auf den Boden fällt. Ein Schimmel macht sich über die Doppelseite breit und hält den Ölzweig im Maul. Berücksichtigen wir, dass der Schimmel, wie Literatur und Mythologie belegen, für das Unheimliche, das Geisterhafte und den Tod steht, ist das blanke Entsetzen, das der Hase angesichts des mächtigen Tieres ausstrahlt, nur allzu gut nachzuvollziehen. So kriecht er, klein und geduckt, durch ein dschungelartiges Dickicht direkt auf eine fleischfressende Pflanze zu. Stehen die übrigen Pflanzen noch in saftigem Grün verweist die fleischfressende Pflanze in Weiß auf weiteres Unheil. Und so schauen wir dem Hasen auf der Folgeseite zu, wie er versucht in einem Ruderboot Eisberge zu umschiffen. Ein Sprung ins kalte Wasser scheint ihn erst einmal in eine bunte Unterwasserwelt zu retten – wenngleich eine gefährliche Mittelmeer-Muräne bereits an Farbe verliert. Auf der nächsten Seite, ein paar Züge weiter, kann der Hase dem kreidebleichen Schwarm an großmäuligen Fischen, einäugigen Tintenfischen und glibberigen Quallen kaum entkommen. Sie treiben ihn so lange vor sich her bis er sich fast in einem Korallenstrauchwerk verfängt. Ihm bleibt nur die Flucht nach vorn bzw. nach oben. Den Ölzweig wie einen Triebkörper fest in den Händen, schafft der Hase es an die Wasseroberfläche, umschlingt einen Eisberg und hat einen Moment des Verschnaufens. Wieder an Land, mit hängenden Ohren und ohne Schuhe, schleicht er durch die Nacht und Brache. Zu Hause angekommen macht er sich daran, die kaputten Dinge zu reparieren und schafft dabei, ganz in der japanischen Tradition Neues. Die Nahtstellen und Risse kommen dabei zum Erscheinen, indem Dinge und Teile zusammengeführt werden, die ursprünglich nicht zusammengehörten. Zum Beispiel verbindet er ein Stück der weißen Tasse mit einem Teil der blauen Tasse, den Henkel eines Eimers mit einem Hut oder einen Schuh mit einem Wagenrad. Dass aus der neu zusammengefügten Tasse ein Ölzweig wächst, verspricht Hoffnung. Von Hoffnung erzählt auch Emily Dickinson Gedicht am Ende. Und wenn wir es genau lesen, mögen wir in ihm einen weiteren Hoffnungsträger wiedererkennen: den Vogel, dessen Gesang wir nach Dickinson selbst im »eisigen Land« und »seltsamsten Meer« vernehmen können.

Issa Watanabe
Kintsugi
Libros del Zorro Rojo 2023
48 Seiten, durchgehend farbig illustriert
Hardcover 21 x 21 cm
ISBN: 978-8-412-67484-2
€ (D) 14,90

Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption

Ein Tisch, gedeckt mit zahlreichen Dingen und Objekten kann anregen, noch einmal anders in die Bilderbuchgeschichte einzusteigen. In einem performativen Akt werden durch einen gemeinschaftlichen »Ruck«, das Wegziehen der Tischdecke, die Dinge und Objekte zu Fall gebracht. Im anschließenden Prozess des Zusammenfügens der Scherben und zerbrochenen Stücke entstehen dabei neue Objekte, die »Kintsugi« nicht nur als Technik, sondern auch als Haltung erfahrbar machen, an Nahtstellen, Rissen und Brüchen Neues entstehen zu lassen.