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EMMA UND DER TRAURIGE HUND

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Emma und der traurige Hund
Sabine Rufener

Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer

Ein Hund, gezeichnet mit struppig-wirrem, dunkel grundiertem buntem Strich, steht im Regen, platschnass und müde und begegnet in diesem Zustand Emma, die – ganz im Gegensatz zu ihm – unter ihrem sonnengelben Regenschirm vergnügt barfuß durch das belebende Nass hüpft. Sie schaukelt mit Schwung und reckt sich gen Himmel. Der Hund jedoch liegt schlaff auf der Schaukel ohne erkennbare Anteilnahme und lässt den Kopf hängen. Eine Schaukel wäre keine Schaukel, würde sie nicht intrinsisch motiviert ins Schwingen gebracht. Sie steht damit für Bewegung, Beweglichkeit wie Mehrperspektivität. So schlägt Emma fröhlich Purzelbäume, der Hund hingegen bleibt erstarrt und resigniert. Nichts scheint ihn davon zu überzeugen, dass das Leben lebenswert sein kann. Emma lässt sich jedoch nicht beirren und versucht den Hund für die leichten und fröhlichen Seiten des Lebens zu sensibilisieren, sich die Regentropfen auf der Zunge zergehen zu lassen, das lauthalse Singen zu zelebrieren oder sich beim Fußballspiel bis zur Glückseligkeit zu verausgaben. Keine Idee, kein Vorschlag und kein Impuls scheinen bei ihm anzukommen. Vielmehr versanden diese in Sprach- und Hilflosigkeit. »›Nun gut‹, unterbrach der Hund schließlich die Stille und seufzte geräuschvoll, ›das hat mich jetzt nicht wirklich überzeugt, nicht sterben zu wollen.‹« Ein im wahrsten Sinne des Wortes schweres Thema, dessen sich Sabine Rufener mit ihrem Bilderbuch annimmt. Namenlos steht der Hund für die Vielen, die betroffen sind von Schwermut und Lebensmüdigkeit. Die Künstlerin setzt dabei das Phänomen der Depression nicht nur mit einer beeindruckenden bildnerischen wie sprachlichen Leichtfüßigkeit um, sondern zeigt darüber hinaus Wege der einfühlsamen Unterstützung Betroffener auf, die auch eine »radikale Akzeptanz« nicht scheuen.

Die Dialoge zwischen Emma und dem Hund bilden den Kern der Geschichte. Sie sind nicht nur Gespräch, sondern bringen das gegensätzliche Erleben und Fühlen der beiden zur Sprache. Allem, was Emma zur Entspannung, Freude und Lebendigkeit vorschlägt, sei es auf einem Bein zu hüpfen, mit anderen gemeinsam zu singen oder Fußball zu spielen, begegnet der Hund mit verächtlichem wie abwehrendem Blick und Ton. Schön, dass sich Emma bei ihren Geschwistern, Eltern, Großeltern so wie ihrer Freundin Rat holen kann.
Auch in diesen Dialogen kommen unterschiedliche Sichtweisen auf den gedrückten Gefühlszustand des Hundes zum Erscheinen. Sie reichen dabei von pragmatischen Vorschlägen, sich mit Schokoriegeln oder Erdbeeren das Leben zu versüßen, über philosophische Einlassungen, das Leben als Wunder zu begreifen oder die »wahre Liebe« zu finden, die einem den Sinn des Lebens schenken könnte, bis hin zur Negierung der depressiven Stimmung durch die Aufforderung, sich nicht anzustellen. Emma entscheidet sich für die Liebe und »kraulte den Hund vorsichtig am Bauch«. Mutig bietet sie ihm an, ihn liebzuhaben, überzeugt davon, dass ihm dieses gut tun würde. Aber leider gibt ihr der Hund ›einen Korb‹. »›Natürlich willst du mich lieben, aber glaub, das ist gar nicht so einfach. Du weißt, ich bin meistens schlecht gelaunt, ich rieche ein bisschen streng und ich singe nicht. Und wahrscheinlich schnarche ich nachts. Glaub mir, du würdest mich sehr schnell nicht mehr lieben. Und nicht mehr geliebt zu werden, ist viel schlimmer, als nie geliebt worden zu sein.‹« Klar, dass Emma erst einmal die Worte fehlen.
Wenn die Worte fehlen, können Bilder zum Ausdruck bringen, was sprachlich nur schwer greifbar ist. Im Falle der Melancholie ist es die Hinwendung zur Welt. Und diese erfordert eine Transformation der Wahrnehmung und Sichtweise auf die Welt und sich selbst. Sabine Rufener setzt diese im Bild mit Hilfe von Perspektivwechseln um. Dabei arbeitet sie mit dem Blick der Protagonisten wie mit dem der Betrachtenden. Als ob ins Bild ›eingeladen‹, schauen wir zu, wie sich Emma und der Hund zum ersten Mal anblicken, wir nehmen den traurigen und starren Blick des Hundes in Differenz zu Emmas offenem Blick wahr, wir folgen Emmas nachdenklichem Blick in ihre Vorstellungswelt, sind ganz nah bei ihr, während sie den Hund liebevoll anblickt und wir haben teil, als beide ihre Blicke in die Ferne schweifen lassen. Kurz vor der Wende können wir buchstäblich einen ›Blickwechsel‹ beobachten. Nun ist es Emma, die ihren Blick zu Boden richtet, und jetzt ist es der Hund, der Emma liebevoll anblickt. Als der Hund sich Emmas Brille ausleiht, ein sinnbildlicher Akt für einen Sichtwechsel, scheint der Knoten geplatzt und ein neuer Anfang gemacht. Die Welt gefalle ihm ganz gut, so unscharf, wie sie ihm durch die Brille Emmas erscheint. Und tatsächlich blicken wir auf der letzten, erstmalig ungerahmten und damit das Buch entgrenzenden, Doppelseite durch Emmas Augen, die wiederum, nun ohne Brille, den Hund nur verschwommen sehen kann. Für die Wahrnehmung »wolkiger« Unschärfe sensibilisiert Sabine Rufener in ihren Bildern durch das Zusammenspiel von Licht und Schatten, wie auch ein Übereinander-Lagern unterschiedlicher Papierqualitäten, wie Back-, Transparent- und handgeschöpftes Japanpapier, und ermöglicht uns unverzichtbare Einblicke. Danke, Sabine Rufener, für dieses Geschenk!

Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption

Das Bild, auf dem Emma schaukelt, sich dabei gen Himmel richtet und der Hund sich gleichzeitig schlaff auf der Schaukel hängen lässt, ist für uns die Schlüsselszene, von der wir ausgehend unsere Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption entwickelt haben. Im Mittelpunkt steht hierbei der Perspektivwechsel, der über den Raum sowie durch eigene Bilder (auch Vorstellungsbilder und Erinnerungen) erfahrbar werden soll. Die Projektion einer Video-Endlosschleife mit einer sich bewegenden leeren Schaukel dient als Kulisse, vor der eine reale Schaukel mit einem großen Stoffhund hängt. Des Weiteren zeigen eine Reihe von Fotos den Hund in entspannten und positiv gestimmten Szenen, wie zum Beispiel auf einem warmen Felsen im Meer, auf einem duftenden Apfelbaum oder auf raschelndem Seetang am Strand liegend. Nach dem gemeinsamen Betrachten und Lesen des Bilderbuches erhalten die Kinder die Gelegenheit, den Stoffhund auf der Schaukel kennenzulernen, mit ihm zu sprechen und ihn zu trösten. In der Folge wählen die Kinder alleine oder zu zweit ein Foto mit einer Situation ihrer Wahl. Für das Setting könnte anregend sein, den Kindern zu vermitteln, dass Emma die Fotos gemacht hat, um dem Hund zu zeigen, dass es auch schöne und lebenswerte Momente in seinem Alltag gibt. Kurze poetische Überschriften zu ausgewählten Fotos können als Anregung für den folgenden Gestaltungsprozess aufgegriffen werden. Auf Transparentpapier schreibend und zeichnend, arbeiten die Kinder das Positive der jeweiligen Situation heraus. Dieses kann durch ein Zeichnen und Malen mit Pastellkreiden, die das Bild erweitern oder verdichten, durch das Verfassen eines Gedichtes oder Briefes an den Hund gerichtet, geschehen. Durch das Überlagern der Fotos mit den Transparenzpapier-Bildern werden Perspektiven übereinandergeschichtet und erweitern auf diese Weise den Blick. Mit unserem Vorgehen knüpfen wir an die Ästhetik des Verschwommenen und des Noch-Nicht-Definierten des Bilderbuches an. Das Setting kann den Kindern auf diese Weise vermitteln, dass sich die Dinge, die Welt und man selbst auf unterschiedliche Weise zeigen können, je nachdem, welche Perspektive wir einnehmen.

Der Workshop wurde von Kirsten Winderlich, Elisa Bauer und Helen Naujoks konzipiert und unter Mitarbeit von Lucia Leonhardt mit einer 4. Klasse der Grundschule am Rüdesheimer Platz, Berlin Charlottenburg-Wilmersdorf, durchgeführt.

Video Schaukelszene: Elisa Bauer
Fotos Hund in diversen Situationen: Lili Winderlich
Requisite Hund: Kirsten Winderlich

Sabine Rufener
Emma und der traurige Hund
Buchgestaltung Franziska Walther
Kunstanstifter 2024
36 Seiten, durchgehend farbig illustriert
Hardcover 21 x 29 cm
ISBN: 978-3-948743-35-2
€ (D) 24 / € (A) 24,70 / CHF 35,90