Eine Stadt
Begegnungen
Linda Wolfsgruber
Text: Kirsten Winderlich
Repros: Elisa Bauer
»Stadt ist, wo Menschen sind« sagte einmal Jochen Gerz und betont mit dieser Aussage, dass das Gebaute ohne öffentliche Räume, in denen sich Menschen aufhalten und einander begegnen, keine Stadt werden kann. Stadtteile werden gebaut, erweitert und transformiert. Manchmal entstehen sie auch gänzlich neu, so wie die Seestadt im Gemeindebezirk Donaustadt in Wien, die Linda Wolfsgruber eines Tages im Jahr 2019 mit ihrem Begleiter Pipin entdeckt. Bei der Seestadt handelt es sich um das aktuell größte Stadtteilentwicklungsprojekt Europas, bei dem der Anteil der öffentlichen Räume über 50 Prozent ausmachen wird. Nach Fertigstellung, konkret bis in die 2030er Jahre, sollen in der Seestadt mehr als 25.000 Menschen wohnen und mehr als 20.000 Menschen arbeiten. Klar, dass Linda Wolfsgruber bei ihren zahlreichen Erkundungstouren aktuell noch wenige Menschen begegnen. Und die Assoziation Pipins zu Georgio de Chirico (1888-1978), der als Hauptvertreter der metaphysischen Malerei gilt, ist nur allzu verständlich, wenn wir uns de Chiricos menschenleeren und traumähnlichen Stadtansichten vor Augen führen. Um so wichtiger, dass Linda Wolfsgruber die Menschen, die ihr während ihrer flanierend-fotografischen Forschungsarbeit über den Weg laufen, zum Sprechen bringt: Was prägt ihren Alltag? Was bewegt sie? Wovon träumen sie? So lernen wir zum Beispiel Rosa kennen, die auf ihrer Dachterrasse ein Bitterorangenbäumchen in der Hoffnung hegt und pflegt, dass die Ernte in ein paar Jahren für die Produktion von Marmelade erträglich sein wird. Oder wir treffen auf das Schwesternpaar Lara Sophia und Lorena, die trotz unterschiedlicher Lebensentwürfe zusammenhalten. Oder wir stoßen auf Guiseppe, der sich im Herbst eine kleine Auszeit von seinem landwirtschaftlichen Betrieb nimmt und es genießt »durch die Gassen zu schlendern und ein gemütliches Kaffeehaus aufzusuchen«. In eindrücklichen Vignetten gibt die Künstlerin diesen Menschen Raum und Gesicht und bringt diese in ein poetisches Wechselspiel mit ihren fotorealistisch-malerischen Stadtansichten. Wie verblichene Fotografien wirken diese wie vergängliche Momentaufnahmen. Durch den Einsatz pastellfarbener Töne, mit denen Linda Wolfsgruber ihre Fotografien im Atelier auf Leinwände überträgt, versteht sie es dabei meisterhaft das noch Übermächtige des neu Gebauten sowie die Atmosphäre des noch nicht ganz Wirklichen zu vermitteln. Wie spannend wäre es, an der weiteren Aneignung und Transformation der Räume teilzuhaben – ist der Titel des Buches doch mit einem unbestimmten Artikel versehen!
Linda Wolfsgruber (Illustration & Text)
Eine Stadt – Begegnungen
Buchgestaltung: Christiane Dunkel-Koberg
Kunstanstifter 2025
44 Seiten, durchgängig farbig illustriert,
Hardcover, 23,5 cm x 32 cm
ISBN: 978-3-948743-41-3
€ (D): 25 / € (A): 25,70 / CHF: 30