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Ein Kind verschwindet

Jens Thieles neues Bilderbuch brilliert mit einem Tabuthema: Ein Kind verschwindet.

Text: Kirsten Winderlich

Der erste Gedanke: Was für eine Katastrophe! Sofort denken wir an Kinder, die plötzlich und unerwartet einfach nicht mehr da sind und von denen Angehörige nie mehr etwas erfahren werden. Wurden sie entführt? Sind sie noch am Leben? Oder sind sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen?
Neben diesen bedrückenden Szenarien gibt es auch positive Beweggründe für das Verschwinden eines Kindes, entwicklungspsychologisch begründete und damit das Kind auch stärkende. Wer kennt den Wunsch nicht aus seiner eigenen Kindheit, einfach einmal weg zu sein, aus Abenteuerlust in die Welt zu gehen, sich dabei zu spüren oder einfach an einem anderen Ort als zu Hause zu sein? Das Fort-Gehen und Fort-Sein kann demnach auch als aus dem Inneren motivierte Lust an der Auseinandersetzung mit dem Anderen und Fremden verstanden werden, als Herausforderung, an der Kinder wachsen, wachsen wollen. Und genau an dieser Schnittstelle bewegt sich Jens Thieles neues Bilderbuch: zwischen der Sehnsucht von Kindern, woanders zu sein, und dem gleichzeitig auch als verunsichernd oder gar beängstigend und bedrohend erlebten Zustand, während der geschützte Raum des gewohnten Alltags – das Zuhause – verlassen wird.
Um diese zerbrechlichen Übergänge zwischen innerem Wunsch oder Erleben und der äußeren Realität zu vermitteln, erzählt uns Jens Thiele Konrads Geschichte im Bild des Traumes. Wie aus vorangegangenen Bilderbüchern – beispielsweise Jens Thieles „Jo im roten Kleid“, „Der Erlkönig“ von Johann Wolfgang von Goethe oder „Die Füße im Feuer“ von Conrad Ferdinand Meyer – bereits bekannt, führt uns Thiele über seine flächenartigen malerischen Collagen aus Farbrissen, Fotografien und Scherenschnitten in Traumwelten, die sich durch surreal anmutende Räume und auseinanderberstende Landschaften auszeichnen. Sie werden von scherenschnittartigen, eher schwarz-weiß gehaltenen Momentaufnahmen der Familie begleitet, die die Thieles Bilderbüchern eigene spannungsgeladene filmische Dramaturgie ankurbeln. Wir haben teil an der zurückgelassenen Familie, die zu Beginn noch wartet, später sucht und zunehmend in Sorge ist. Ergänzt werden diese Bilder durch Vignetten des elterlichen Hauses, ebenfalls im Collagestil. Je nach Zustand der Sorge um das vermisste Kind und der Hoffnung ändern sich die Beschaffenheit und Farbe des Weges zum Haus sowie das Licht, das aus dem Inneren des Hauses dringt und lockt.
Was aber geschah mit dem Jungen? Nachdem Konrad voller Tatendrang aufbrach, einen Wald entdeckte und erkundete, stürzte er unerwartet in die Tiefe. „Er hatte Mühe, sich dort unten zurechtzufinden.“ Gleichzeitig „leuchtete und funkelte [es] an allen Ecken“, heißt es in der Geschichte. Und so erscheint es auf den ersten Blick gar nicht ungewöhnlich, dass Konrad eine Krone trägt. Die Referenz zur aussichtslosen dunklen Unterwelt einerseits und zum strahlend hellen Königreich andererseits treibt die Chancen und Gefahren einer Abkehr vom Bekannten noch einmal auf die Spitze. Tatsächlich hatte Konrad so ein Haus noch niemals betreten, heißt es im Text. Obwohl er diese Differenzerfahrung zum heimischen engen Bauernhaus und -alltag sichtlich genoss, kam Sehnsucht in ihm auf, und langsam begann er sich zu fragen, ob seine Eltern ihn vermissen und nach ihm suchen.
In diesem Moment berühren sich Traum und Realität. An Erfahrung gewachsen, tritt Konrad seinem Spiegelbild gegenüber. Hin- und hergerissen zwischen den Welten, nimmt er schließlich seine Krone vom Kopf und stellt sich vor, wie seine Eltern und Geschwister gemeinsam am Tisch sitzen, an dem nur sein Platz leer ist. Dass Konrad aufgrund seines Auszugs nicht derselbe bleiben wird, unterstreicht die dreigeteilte Bildsequenz, die mit Konrads Offenheit und Aufmerken für das Noch-Nicht bei gleichzeitiger Rückversicherung an Herkunft und Familie eine Schlüsselsituation in der Bilderbuchgeschichte darstellt.
Obwohl Konrad gefunden wird und zurückkehrt, schwelt am Ende für viele wahrscheinlich die Frage – wie so oft im Zusammenhang mit anspruchsvollen künstlerischen Bilderbüchern –, ob „Konrads Traum“ nicht eher ausschließlich etwas für Erwachsene sei. Meine Antwort: ein ausdrückliches Nein! Denn dieses Bilderbuch spricht Kindern geradezu wortwörtlich aus der Seele. Wie ein Spiegel beleuchtet es eines ihrer ureigenen Themen, das Über-sich-hinaus-wachsen-Wollen.
Sicherlich werden Kinder auch von ganz allein groß. Aber ohne Mut und ohne Berührung mit dem Anderen und Fremden, ohne Gefühle, die verunsichernden eingeschlossen, wird es keine persönliche Entwicklung und Entfaltung, kein Reifen geben. Und vielleicht ist das Bilderbuch in diesem Sinne ja doch ein Buch auch für Erwachsene, kann es sie doch darin bestärken, Kinder sein zu lassen.

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Jens Thiele
Konrads Traum
Peter Hammer 2019
32 Seiten, durchgehend farbig illustriert,
Hardcover, 21.6 x 1.2 x 30.3 cm
ISBN: 978-3779506188
€ (D): 16,00 / € (A): 16,50 / CHF: 23,90

Nominiert für DIE BESTEN 7 (Deutschlandfunk), September 2019