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Ein Baum ist ein Anfang

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Ein Baum ist ein Anfang
Nicola Davies und Laura Carlin

Text: Kirsten Winderlich
Repros: Elisa Bauer
Fotos: Helen Naujoks

Das Bilderbuch von Nicola Davies und Laura Carlin, das im Original den Titel »The Promise« trägt, erzählt die Geschichte eines Mädchens aus prekären Verhältnissen. Text und Bilder vermitteln eindrucksvoll, wie die Umgebung und die Umstände, in denen das Mädchen aufwächst und lebt, für sein Selbstbild wie sein Fühlen und Handeln prägend sind.
Das Mädchen stiehlt. Die Bilder transportieren die Umstände durch atmosphärisch gestimmte städtische Räume der Kälte, ohne Sommerlicht, sowie durch die Haltung und Mimik der Menschen in der Stadt. »Als ich klein war, wohnte ich in einer schäbigen, hässlichen und heruntergekommenen Stadt. Kein Grün. Alles kaputt. Keine Freude«, berichtet das Mädchen zu Beginn des Bilderbuchs. Auf der nächsten Seite überträgt es die Umstände auf sein eigenes Selbstbild: »Die Menschen waren genauso schäbig, heruntergekommen und hässlich geworden wie ihre Stadt und auch ich war hässlich, heruntergekommen und schäbig. Ich war im Inneren genauso verdorrt wie die Bäume im Park.«
Eines Nachts überfällt das Mädchen eine hilflose alte Frau und versucht deren Taschen an sich zu reißen. Der Zweikampf wird von Laura Carlin als lasiertes Schattenbild vor einer geschlossenen Mauer dargestellt, das die Ausweglosigkeit der Situation auch metaphorisch hervorhebt. Schließlich überlässt die alte Frau dem Kind die Tasche, wenn es verspricht, deren Inhalt zu pflanzen. Ohne zu wissen, was das Versprechen bedeutet, stimmt das Mädchen zu und rennt mit der Tasche davon. Auf dem dazugehörigen Bild deutet ein kippendes Hochhaus inmitten der sternenklaren Nacht einen Wendepunkt an.
In der Tasche befinden sich Eicheln. Obwohl das Kind fest mit Geld und Essen gerechnet hatte, ahnt es, dass es etwas sehr Wertvolles in den Händen hält. »Ich hielt einen Wald in den Armen und wurde zu einem anderen Menschen«, heißt es ein wenig pathetisch im Text. »Ich schlief mit den Eicheln als Kissen, den Kopf voller Blätter-Gedanken.« Im Bild nehmen die Nacht und der Traum die kommenden Veränderungen vorweg: Farbig gefiederte Vögel versammeln sich um das schlafende Kind.
Am folgenden Tag schauen wir dem Mädchen inmitten eines dicht befahrenen und nicht endenden Kreisverkehrs aus der Vogelperspektive beim Pflanzen zu. Noch scheint es eine Sisyphos-Arbeit, denn bis auf die winzig kleinen, rostroten Punkte, die Eicheln andeuten, ist das Bild Grau in Grau gehalten. Doch das Mädchen lässt sich nicht aufhalten: »Ich drängte das Heruntergekommene, Hässlich und Schäbige fort und pflanzte und pflanzte und pflanzte.« Im Bild das erste Mal farbig in Szene gesetzt, treten neben den zarten Pflanzen Menschen auf die Straßen, einander zugewandt, staunend und lächelnd. Bald tun sie es dem Mädchen gleich, pflanzen Bäume und Blumen, Obst und Gemüse. Die Vögel, die wir ein paar Seiten zuvor am nächtlichen Bett des Mädchens betrachten konnten, bevölkern nun die Bäume in der Stadt. Ein Zeichen für das Mädchen, weiterzuziehen – zum nächsten trostlosen Ort.
Das Schnellball-System greift nicht nur beim Pflanzen, sondern bezieht Menschen ein, denen es ähnlich geht wie dem Mädchen zu Beginn der Geschichte. So ist es nicht verwunderlich, dass das Mädchen gegen Ende der Geschichte selbst überfallen wird und dem Dieb ein Versprechen abnimmt.

Nicola Davies (Text) / Laura Carlin (Ill.)
Ein Baum ist ein Anfang
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Gutzschhahn
Aladin 2022
48 Seiten
Hardcover, 25,6 x 26,6 cm
ISBN: 978-3-848-902-06-4

Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption

Die Bilder Laura Carlins spiegeln das innere Erleben und Fühlen des Mädchens, das sich im Laufe der Geschichte verändert, insbesondere durch das Pflanzen. Sind dir in deiner unmittelbaren Umgebung auch schon trostlose, graue Stellen und Orte aufgefallen? Was hälst du davon, dort etwas zu pflanzen? Hast du eine Idee?
Fotografiere, zeichne oder male den Ort, an dem du etwas pflanzt, vorher und nachher.

Folgende Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption sind von Pia Levi

Pia Levi hat diese im Rahmen eines Masterseminars von Kirsten Winderlich zum Thema »Verwundbare Kindheiten« entwickelt und für diese eine Bilderbuchwerkstatt konzipiert und mit Kindern, einer 1. Klasse der Grundschule am Rüdesheimer Platz in Charlottenburg-Wilmersdorf, durchgeführt. Einen Einblick geben die Fotos von Helen Naujoks.

Eine ausgewiesene Seite des Bilderbuches wird derart projiziert, dass sowohl Wand als auch ein Teil der Decke Projektionsfläche sind. Die Kinder werden entsprechend eingeladen, nah an der Bild-Wand und direkt unter der -Decke Platz zu nehmen und die Bilderbuchgeschichte zu rezipieren. Intention ist, dass die Kinder durch die besondere Form der Projektion ein Gefühl für die bedrückende Stimmung erhalten. Ein Graffiti des menschenleeren und trostlosen Stadtraumes in einem zweiten Raum bildet den Übergang in die Praxis. Neben dem Graffiti bilden Kübel mit verdorrten Pflanzen, gestreut über den Raum, eigene Orte des Nachsinnens, Zeichnens und Schreibens. Jedes Kind erhält einen Briefumschlag, mit einem Eichelstempel versehen. Im Briefumschlag befinden sich jeweils fünf Etiketten, die Farbfotokopien der Protagonistin sowie Freiraum für die eigene Gestaltung bereithalten. Impulsgebende Frage ist: Wie können wir Stadt fröhlicher und lebenswerter gestalten? Auf einem anschließenden Spaziergang erhalten die Kinder die Gelegenheit ihre Etiketten an ausgewählten Orten zu platzieren und ihre Stimme im Sinne der Botschaft des Bilderbuches zu hinterlassen.

Konzept der Bilderbuchwerkstatt: Pia Levi
Raumgestaltung: Pia Levi
Stadtspaziergang: Pia Levi