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Caminar el tiempo

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Caminar el tiempo
Spore Initiative / Mariana Alcántara (Ill.)*

Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer
Repros: Elisa Bauer und Helen Naujoks

Vor mir liegt ein malerisches Buch, das sich, nach allen vier Seiten aufgeklappt, als ein prächtiger, saftgrüner Baum entpuppt, in dem eine farbenfrohe Vogelwelt den nahenden Regen besingt. Ich öffne eine Schatzkiste, die, gefüllt mit dem einzigartigen tradierten Wissen der Maya, Einblicke in eine seismographisch motivierte Beobachtungweise von Klima und Wetter gibt. In der Sprache der Mayas heißt diese Gabe, seine Umwelt auf spezifische Signale hin wahrzunehmen, zu interpretieren und entsprechende Maßnahmen für die Pflege ihrer Samen und Pflanzen zu treffen, »xook k’iin«. Es handelt sich dabei um eine tief verwurzelte Tradition, mit der Vielfalt der Umgebungen und Arten in Beziehung zu treten. »xook k’iin« beruht also auf einem erfahrungsbasierten und spirituellen Umgang mit der Natur, dessen Erkenntnisgewinn von Generation zu Generation weitergegeben wird. Dank des Bilderbuches, das von der Spore Initiative in gelebter Kooperation mit der Schule für ökologische Landwirtschaft (Escuela de Agricultura Ecológica U Yits Ka’an) und diversen weiteren Akteur:innen indigenen Wissens entwickelt wurde, kann dieser nun auch über die Halbinsel Yucatán hinaus weitergegeben werden!
Vor mir warten 24 Karten mit mehrschichtigen Malereien, Ausschnitte und Details der wahrgenommenen Umgebung fokussierend, wie assoziativ-sinnlichen Textfragmenten darauf, ausgebreitet, betrachtet, gelesen, miteinander kombiniert und ›weitererzählt‹ zu werden. Dabei vermitteln die Karten die Zeichen der Natur als Schlüssel für ein Zusammenleben im Einklang mit dieser in poetischem Ausdruck zwischen Bild und Sprache. Seien es die Mondphasen, die auf den günstigen Zeitpunkt für das Pflanzen rückschließen lassen. Oder sei es die genaue Beobachtung der Bewegung der Ameisen. Gruppieren sich diese nämlich um ihr Nest, kündigt dieses Phänomen einen besonders starken und heftigen Regen an. Oder sei es der Gesang der Zikaden im Frühling, der auf regenlose und sonnige Tage beim Maisanbau verweist.
Die Impulse am Ende des Buches greifen diese Fähigkeit, sich derart wahrnehmend mit der Natur auseinander zu setzen, noch einmal auf und teilen dabei auf spielerische Weise indigenes Wissen. Wir werden aufgefordert, die Bilder und poetischen Einlassungen in Beziehung zueinander zu setzen und uns in einer Gruppe über die Entdeckungen auszutauschen. In diesem Sinne können die Impulse auch als Möglichkeit eines ›Durchlebens‹ der Haltung der Mayas verstanden werden: sich in Beziehung zur Natur zu setzen, sich dabei nicht nur in ihrer Wertschätzung zu üben, sondern entsprechend dieser auch zu handeln. So werden wir zum Beispiel eingeladen, uns mit Freunden unter einem Baum zu treffen, die Karten aus dem Buch darunter zu verteilen und jeweils eine zu wählen, mit der wir uns identifizieren können. Wie wäre es, eine Wolke zu sein? Wie wäre es, die Welt aus der Perspektive einer Ameise zu betrachten? Und welche Zusammenhänge können wir zwischen Regen und Kröten, oder zwischen Mais und Insekten entdecken? In Auseinandersetzung mit diesen Fragen, wird das Bilderbuch zum »Kulturellen Werkzeug« (Spore Initiative). Denn nehmen wir dieses buchstäblich in die Hand, beginnen mit diesem zu arbeiten und zu denken, können sich ungeahnte und lebenswichtige Erfahrungsräume öffnen.

*Das Konzept und die Produktion dieses Materials sind das Ergebnis eines Dialogs mit der Spore Initiative, der Schule für ökologische Landwirtschaft „U Yits Ka’an“, Julián Dzul, Abrahan Collí, Bauern und Landverteidigern aus Yucatán und anderen Regionen in Mexico. Illustrationen von Mariana Alcántara.

Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption

Das Buchobjekt und -projekt »Caminar el tiempo« lädt ein ›den Faden aufzunehmen‹, sich einen Ort zu suchen, an dem sich Natur ereignet und die eigene Wahrnehmung zu sensibilisieren für all das, was im Alltag vielleicht übersehen und entsprechend übergangen wird. Wohl wissend, dass wir über die Fähigkeit »xook k’iin« nicht verfügen können, sollen folgende Überlegungen anregen, von der Haltung der Mayas, die sich in »Caminar el tiempo« spiegelt, zu lernen. Konkret bedeutet dieses, dass wir einen Ort aufsuchen, der in unserem städtischen Lebensumfeld entsprechend »Naturkultur« (Haraway 2003) inszeniert. In Berlin haben wir uns diesbezüglich für die »Floating University Berlin« entschieden, die sich seit 2018 am und im Regenwasserrückhaltebecken des ehemaligen Flughafens Berlin-Tempelhof befindet. Nach der Schließung des Flughafens haben an diesem Ort eine Vielzahl an Pflanzen, Algen und Tieren eine spezifische Landschaft entstehen lassen, die die Initiator*innen der »Floating« in Anlehnung an Gilles Clément (2010) als dritte Landschaft beschreiben. Ausgerüstet mit Jutesäcken, einem überdimensional großen Blanko-Leporello wie Blanko-Karten machen wir uns auf die Suche nach einem geeigneten Ort, um an diesem unter einem Baum zu lagern. Mit Pigmenten, Graphit-Stiften aber auch Erde und Schlamm entsteht auf dem Leporello eine Gemeinschaftsarbeit, die den Ort zum Bild werden lässt. Was lässt sich auf diesem Gelände entdecken, was im Wasser, an den Rändern zum Wasser, zwischen den Pflanzen beobachten? An welchen Stellen passiert etwas Besonderes? Gibt es Zeichen, die uns etwas Bestimmtes sagen wollen? Was? Die Kinder durchforsten das Gelände und sammeln dabei Spuren ihrer Entdeckungen.