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Anna

Text: Kirsten Winderlich
Repros: Elisa Bauer

Groß-Sein ist nichts Großartiges, und Großwerden gleicht einem unermüdlichen Gipfelsturm, weiß Mia Oberländer aus eigener Erfahrung und bearbeitet diese in ihrem Comic „Anna“ auf grafisch stilisierenden und farbflächigen Bildtafeln durch raffinierte typografische Setzungen mit Schwung und Humor. Das Miteinander in dem kleinen Bergdorf, in dem Anna, ihre Mutter und Großmutter leben und leiden, ist von Vorurteilen und Diskriminierung geprägt. 

Was bedeutet es, nicht der Norm zu entsprechen, sich permanent beäugt zu fühlen und gleichzeitig verlässlich ausgegrenzt zu werden? Durch die bildnerische Freistellung der Figuren, die Überzeichnung von Mimik und Körperproportionen inszeniert die Illustratorin das Denken, Fühlen und Handeln der Protagonistinnen meisterhaft. Die Dialoge spiegeln, dass sie sich dem Schutz ihrer Familie, insbesondere ihrer (Groß-)Mütter nie sicher sein konnte, sondern dass die Diskriminierung innerfamiliäre Weitergabe und Verstärkung erfährt. So wurde Annas Mutter bereits im Kinderwagen wegen ihrer Körpergröße gehänselt, und der Fleischer enthielt ihr die von allen Kindern geliebte „Kinderwurstgabe“ vor. Mit dem Statement, dass die Tochter schon groß und stark genug sei, stimmte die Mutter in sein lästerndes Lachen ein. 

Der Tag des Schwimmabzeichens war für Anna nicht nur von Aufregung geprägt, sondern auch von dem ständigen Druck, die Mutter und Großmutter nicht zu blamieren. So sprach die Großmutter Anna keinen Mut zu, sondern betonte vielmehr, wie unangenehm es gewesen sei, Mutter des einzigen Mädchens zu sein, das kein Schwimmabzeichen hatte. Als Anna in der Schwimmprüfung nicht nur scheitert, sondern sogar gerettet werden muss, macht die Großmutter die Tochter, Annas Mutter, dafür verantwortlich. Das Kind sei zu lang zum Schwimmen, findet sie. 

Alles schreit nach einem Befreiungsschlag! Der wird, wie kann es in den Bergen anders sein, auf dem Gipfel vollzogen und durch die pointiert gesetzte Farbauswahl auf die Spitze getrieben. Hat Mia Oberländer von Anfang an verstanden, die intergenerationelle Tragik ihrer Familiengeschichte in eigensinniger Bildsprache ins Groteske zu ziehen, wendet sie die Schlussszene ins Metaphorische. Denn, so ihre poetische Schlussfolgerung: Wenn wir Glück haben, kann Groß-Sein zu einer grandiosen Aussicht verhelfen. 

Dieser Beitrag ist in der Publikation »Verwundbare Kindheiten. Eine Anthologie zeitgenössischer Bilderbuchkunst« erschienen. Hier geht es zur Publikation mit weiteren spannenden Bilderbüchern:
https://wamiki.de/shop/buecher/verwundbare-kindheiten-eine-anthologie-zeitgenoessischer-bilderbuchkunst/

Mia Oberländer
Anna
Edition Moderne 2021
220 Seiten, durchgehend farbig illustriert, gebunden,
16.4 x 2.3 x 24.1 cm
ISBN: 978-3-037-31222-3
€ (D): 25,00 / € (A): 25,70 / CHF: 29,80

Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption 

Mia Oberländer bringt die Diskriminierung, die sie, ihre Mutter und ihre Großmutter erfahren hatten, mit Mitteln der Übertreibung ins Bild. Betrachte die Grapic Novel noch einmal und sensibilisiere deinen Blick für die Mittel der Übertreibung. Achte dabei auf die Darstellung der Figuren und auf die einzelnen Situationen. Was kannst du entdecken?