Text: Kirsten Winderlich
Wie leben Nomaden im hohen Norden? Wie fühlt sich Finnland an? Woher kommen die Geschichten in Ägypten? Und welche Bedeutung haben chinesische Schriftzeichen für das Leben und die Kunst in China? Bilderbücher eröffnen Einblicke in fremde Kulturen und Welten. Autoren, die sich mit fremden Ländern auseinandersetzen, sind oft in mehreren Kulturen zu Hause, können aus diesem Grund einen multifokalen Blickwinkel einnehmen, zeigen vertraut Erscheinendes wie Unbekanntes und bringen dadurch die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen ins Wanken.
Vermutlich hätten sich vier- und fünfjährige Kinder vor dem Betrachten des Bilderbuchs »Die Abenteuer des jungen Welzls« von Peter Sis nicht vorstellen können, dass die Inuit, die im hohen Norden in eisiger Kälte um ihr Überleben kämpfen, Kunst produzieren, sammeln und ausstellen. Die Kinder erhalten nicht nur eine Vielfalt neuer Informationen, sondern lernen beim Betrachten aktueller Bilderbücher auch eine Vielfalt von Möglichkeiten kennen, sich dem Fremden zu nähern. So erfahren sie zum Beispiel in dem sehr persönlichen »Notizbuch« Mohieddin Ellabads, wie sie sich durch das Sammeln und Anordnen von Dingen, Postkarten, Fotos und Zeichnungen immer wieder neue und spannende Zugänge zum vermeintlich Bekannten im eigenen Alltag verschaffen können. Chen Jianghong zeigt ihnen in seiner Geschichte »Han Gan und das Wunderpferd«, dass die Betrachtung eines alten Meisterwerks chinesischer Kunst Geschichte und Geschichten zwischen Tradition und Moderne, zwischen fernöstlicher und westlicher Kulturen lebendig werden lässt. Vielleicht erfahren die Kinder in der Auseinandersetzung mit »Lius Reise« von Catherine Louis, welche Zusammenhänge zwischen Sprache, Leben und der Tradition von Geschichten besteht — nicht nur in der chinesischen Kultur, sondern auch in der eigenen. Schließlich erzählt der Junge Finn in dem Bilderbuch »Finns Land« von Heinz Janisch und Linda Wolfsgruber, wie das ferne Finnland zwischen Imagination und Wirklichkeit immer auch ein Stück von uns selbst wird.
Der ästhetisch forschende Ansatz
Allen Bilderbüchern ist der ästhetisch forschende Ansatz‘ gemeinsam. Die ästhetische Forschungspraxis bezieht in Abgrenzung zur wissenschaftlichen Forschung künstlerische und an Alltagserfahrungen orientierte vorwissenschaftliche Verfahren ein. Dabei entstehen individuelle und subjektive Vernetzungen zwischen Geschichte, Wirklichkeit und Imagination, dargestellt in Bild und Text. Sie ermöglichen den Betrachtern einen ästhetisch forschenden Zugang zum Fremden anderer Kulturen und regen an, die eigene Vorstellungsfähigkeit zu nutzen.
»Die Abenteuer des jungen Welzls«: Forschungsreise auf den Spuren eines Mythos
Peter Sis nähert sich durch Erzählung, Malerei und Kartierung dem Mythos eines tschechischen Volkshelden, der Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts gelebt und einen großen Teil seines Lebens in der Arktis verbracht haben soll. Er nutzt die Kartierung als spezifisches Gestaltungsmittel. Durch unterschiedliche Karten und deren kunstvolle Verknüpfung lässt uns Peter Sis an seiner Reise in den hohen Norden auf den Spuren Jan Welzls teilhaben. Wir erleben mit, wie Sis als Kartograf der Geschichte Welzls folgt und langsam selbst Teil dieser Geschichte wird, als Forschender, der mit der ethnografischen Forschung spielt.
Schon als Kind, so erzählt uns Peter Sis im Vorwort, faszinierten ihn die Erzählungen Jan Welzls und beflügelten seine Fantasie. Der Autor fühlt sich als Ich-Erzähler und mittels Malerei mit farbiger Tinte, Wasserfarben, goldener Acrylfarbe und Stempeln auf Aquarellpapier in die Perspektive Welzls ein, vollzieht dessen Reise in den hohen Norden und den Alltag in der Arktis nach. Die minutiös gezeichneten Karten visualisieren den individuellen Weg Jan Welzls. Landschaftsaquarelle, die den Karten beigesellt sind, lassen die gewaltige, menschenleere und kalte Landschaft der Arktis entstehen, in der die Menschen, der Natur ausgesetzt, Dinge erfinden, um zu überleben. Wir betrachten Bilder kunstvoll verzierter, warmhaltender Kleidung, speziell für den Schnee entwickelter Schuhe, eigens für das mit Eisschollen übersäte Meer ausgerichteter Kajaks, Bilder von Hundeschlittengespannen für die Fortbewegung im Schnee, unterschiedlichen Fanggeräten für Fische, Vorrichtungen zum Kochen und Trocknen von Fellen oder Kleidung. Wir lauschen den Geschichten und Gesängen der Inuit, die den Lauf der Dinge und der Welt zu erklären oder zu beeinflussen versuchen. Sis‘ Bilderbuch versteht sich als Forschungstagebuch über einen Mythos, die sagenhaften Erinnerungen eines Arktisreisenden. Es regt an, die andere, fremde Kultur selbst zu beschreiben —und das mit Fantasie.
»Notizbuch«: Erinnerungen an die Kindheit
Der Kartografie im Sinne von Mappingverfahren bedient sich auch der Bilderbuchkünstler Mohammed Mohieddin Mussa Ellabbad, der uns mit seiner Sammlungen von Andenken an vergangene Zeiten und Notizen nicht nur Anteil an seiner Kultur, sondern auch an seiner Biografie nehmen lässt. Mittels Collagen aus Texten, verfasst in arabischen Schriftzeichen, Illustrationen, Fotografien und Postkarten reflektiert der Autor Kindheitserinnerungen und philosophiert über den Alltag und die Kultur seiner Heimat. Dass es sich um eine für die Leser aus der westlichen Welt fremde Kultur handelt, wird durch die Handhabung der Leserichtung bereits in der Buchgestaltung berücksichtigt. Das Bilderbuch ist so gebunden, dass wir es von hinten nach vorn – oder besser: von rechts nach links – durchblättern. Ein Durchfahrt verboten-Schild auf dem vorderen Buchdeckel weist darauf hin, dass das Buch nicht in der gewohnten Weise zu lesen und anzuschauen ist.
Gehen wir der gewünschten Leserichtung nach, geben die einzelnen Mappings nicht nur Auskunft über Erinnerungen, Erlebnisse und Erfahrungen, Einblicke in den Alltag und das Aufwachsen in der Kultur Ägyptens, sondern erzählen auch die Lebensgeschichte Mohieddin Ellabads, seine ästhetische Bildungsbiografie gewissermaßen: Sie berichten über seine Sammelleidenschaft, seine frühe Lust am Lesen und Schreiben, sein Interesse an unterschiedlichen Bildern und Dingen, die intensiven (Natur)-Erlebnisse, seine Neugier und sein Interesse an scheinbar Nebensächlichem. Gerade durch diese biografischen Momente werden wir an viele Dinge erinnert, die uns vertraut sind, und erkennen Gemeinsamkeiten der Kulturen.
»Han Gan und das Wunderpferd«: Geschichte in Bildern und Geschichten
Wer vermag das Gemeinsame zwischen den Kulturen besser zu beschreiben als diejenigen, die sich zwischen den Kulturen bewegen? Chen Jianghong, dem das Troisdorfer Bilderbuchmuseum in diesem Jahr eine eigene Ausstellung widmete, wuchs in China auf und studierte Kunst in Tianjin und Beijing. Seit 1987 lebt er als freischaffender Künstler in Paris.
Die Erfahrung unterschiedlicher Kulturen macht sich in seinen Bilderbuch-illustrationen bemerkbar, für die er zwar meist traditionelle Tuschtechniken verwendet, sie aber häufig mit zeitgenössischen künstlerischen Arbeitsweisen verknüpft. Bemerkenswert an seinen Bilderbüchern ist, dass seine Geschichten ihren Ausgangspunkt häufig in einem alten Kunstwerk finden. So auch in der Geschichte »Han Gan und das Wunderpferd«.
Chen Jianghong geht von einem Meisterwerk des Malers Han Gan aus, der vor mehr als 1.200 Jahren in China lebte und für seine Pferdedarstellungen berühmt war. Das Werk »Pferde und Reitknechte« in Tusche und Farbe auf Seide ist im Museum Cernuschi in Paris zu sehen. An dieses Gemälde anknüpfend, erzählt Chen Jianghong eine ganz eigene Geschichte Han Gans und malt wie der Altmeister auf Seide.
Chen Jianghong beschreibt Han Gan in seinem Bilderbuch als Künstler, der schon als Kind am liebsten zeichnete. Pferde faszinierten ihn. Nicht müde werdend, stellte er sie immer wieder in ihrer Lebendigkeit und Schönheit dar. Eines Tages erkannte ein Meister sein Talent und ermöglichte ihm, seine Pferdestudien und Malereien weiterzuentwickeln. Auf seine Begabung aufmerksam geworden, machte der Kaiser ihn zum Mitglied seiner Hofgilde. Auch hier widmete er sich, gegen die Tradition, der Darstellung von Pferden. Man begann, Geschichten über seine Leidenschaft zu erzählen. So auch diese, dass Han Gan seine Pferde mit einem Zauberpinsel zu Leben erwecken könne. Ein Krieger erfuhr von dieser Fähigkeit Han Gans, suchte ihn heimlich auf und bat um die Zeichnung des stärksten Schlachtrosses. Han Gan, unzufrieden mit seinen Versuchen, das stärkste Pferd zu zeichnen, warf schließlich sein letztes Bild frustriert ins Feuer. »Kaum hatte er das Blatt in die Flammen geworfen, sprang ein prächtiges Schlachtross daraus hervor.« Der Krieger galoppierte mit dem Pferd davon und errang mit ihm einen Sieg nach dem anderen. Doch er fand keine Ruhe, wollte immer weiter kämpfen und bemerkte nicht, dass sein Pferd, das aus der Feder Han Gans stammte, den Anblick des Krieges nicht mehr ertragen konnte. Schließlich warf das Tier den Krieger ab und trabte davon. Lange suchte der Krieger nach ihm. Das Pferd war tatsächlich zu Han Gan zurückgekehrt, und zwar in eins seiner Bilder.
Genaue Betrachter werden bemerken, dass es sich bei dem Bild Han Gans in der Bilderbuchgeschichte um die Spiegelung des alten, im Pariser Cer-nuschi Museum ausgestellten Gemäldes handelt. Chen Jianghong lässt das zurückgekehrte Pferd die vier Pferde des Originals anführen.
Der Autor nähert sich der Kultur und Kunst Chinas, indem er ein Gemälde aus alter Zeit animiert, Geschichte lebendig werden lässt und sie in Geschichten weitererzählt. Die Verwendung von Seide als Hintergrund für die Bilder dient wie das Thema der Wunderpferde der Einfühlung in das auf der letzten Bilderbuchseite abgebildete historische Gemälde Han Gans. Chen Jianghong nähert sich durch diese Materialentscheidung dem Meisterwerk nicht nur auf mimetische Weise. Sie drückt Wertschätzung für das Kunstwerks aus, belebt es quasi wieder. Die meisten Werke Han Gans sind nämlich nicht erhalten geblieben, weil Seide mit der Zeit zerfällt.
Die Auseinandersetzung mit der chinesischen Kunstgeschichte ermöglicht dem Autor die Annäherung an die eigene Geschichte und Kultur, an die Herkunft als Mensch und als Künstler. Auch uns eröffnet das Bilderbuch »Han Gan und die Wunderpferde« nicht nur Zugänge zur Kultur und Kunstgeschichte Chinas, sondern ebenso zum Prozess der Selbstvergewisserung eines Künstlers, der seinen Wurzeln nachspürt. Kann doch das Bekannte und Vertraute der eigenen Herkunft und alten Heimat mit der Zeit und durch räumliche Entfernung immer auch zum Fremden werden.
»Lius Reise«: Schrift und Bild im Zusammenspiel
Mimetische Annäherungen an Bilder und Zeichen fremder Kulturen können Zugänge zum Anderen und Fremden eröffnen. So nähert sich auch die Bilderbuchgeschichte »Lius Reise« von Catherine Louis der vielen von uns fremden Kultur Chinas. Wie sich Chen Jianghong von einem Gemälde inspirieren ließ, lässt sich Catherine Louis von den fremden Schriftzeichen anregen, die Geschichte des Mädchens Liu zu erzählen, das sich, vom Großvater gerufen, nachts im Traum auf eine Reise macht und einem auf geheimnisvolle Weise vorbestimmten Weg folgt.
Catherine Louis illustriert die Stationen der Reise mit Bildern in Linoldruck. Als Hintergrund für die Drucke setzt die Künstlerin Collagen aus verschiedenfarbigen, handgeschöpften Papieren ein. Im Dialog mit den Kalligrafien von Feng Xiao Min, die die einzelnen Wegmarken aufgreifen, werden traditionelle und moderne Kalligrafien nebeneinander gezeigt und durch Bilddetails ergänzt. So sehen wir auf der Seite der ersten Wegmarke einen Bildausschnitt zur Nacht und zum Mond, begleitet vom entsprechenden alten und modernen chinesischen Schriftzeichen. Auf jeder Seite werden die im Text hervorgehobenen Wörter für die Wegmarken der Reise Lius aus dem Bild exzerpiert und in jeweils ein altes und ein modernes chinesisches Schriftzeichen übertragen.
Die Geschichte wird uns also auf fünf Ebenen erzählt: Erstens auf der Ebene der Illustration, die die jeweilige Station bildnerisch als Situation darstellt. Zweitens auf der Ebene des Textes, der die Reise aus der Ich-Perspektive Lius erzählt. Drittens auf der Ebene des Bilddetails, das die Situation auf ein Bild oder besser als Image abstrahiert. Viertens auf der Ebene des alten Schriftzeichens, das für die Sprache des Großvaters stehen könnte. Und fünftens auf der Ebene des modernen Schriftzeichens, das für die Sprache Lius stehen könnte.
Am Schluss ihrer Reise ist Liu bei ihrem Großvater angekommen. Und die Leser haben chinesische Schriftzeichen kennen gelernt und sind in deren Kultur eingetaucht.
»Finns Land«: Das Eigene im Fremden entdecken
Der Junge Finn nähert sich dem fremden Land mit seiner Vorstellungskraft. Ausgangspunkt seiner »Traumreise« könnte sein Name gewesen sein, denn die von Heinz Janisch erzählte und von Linda Wolfsgruber illustrierte Bilderbuchgeschichte heißt »Finns Land«.
Das fremde Land ist ein Traum von einem Land. In Finns Finnland ist alles besser: Es gibt Brot mit Erdbeergeschmack, aus dem Fenster sieht Finn das Meer, und alle Leute spielen Fußball, sogar Klosterschwestern und Polizisten.
Werden diese Fantasien, Träume und Wünsche eines acht- oder neunjährigen Jungen dem fremden Land gerecht? Finns Auseinandersetzung mit Finnland verläuft assoziativ. Auslöser seiner Assoziationen sind aus Urlaubsberichten aufgeschnappte Informationen und Bilder, die ihm auf Werbeplakaten und in Reiseprospekten begegnen. In seinem Alltag wird Finn, der sich für Finnland interessiert, immer wieder mit Tatsachen finnischer Kultur konfrontiert. Wahrscheinlich hat er Fotos von nackten Menschen im Schnee gesehen, die, da er finnische Saunen nicht kennt, ihn auf den Gedanken bringen: »Sogar, wenn in Finnland Schnee liegt, ist allen schön warm!«
Linda Wolfsgruber antwortet in ihren Illustrationen auf die sprachlich-assoziative Annäherung Finns an sein Traumland, indem sie auf der Bildebene ähnlich assoziativ verfährt. Dinge, die im Text erzählt werden, tauchen im Bild wieder auf, werden jedoch in einen anderen Bedeutungszusammenhang transformiert. Dass Finn alle sieben Minuten nach Finnland möchte, wird durch die Hervorhebung der Ziffer Sieben im überdimensional großen Ziffern-blatt einer Uhr illustriert. Die Hervorhebung macht zugleich aber auch auf die Tagesszeit aufmerksam. Finn sitzt am Frühstückstisch, rührt sein Frühstücksbrot nicht an und murmelt, dass sie in Finnland sicherlich Brot mit Erdbeergeschmack haben. Im Bild entdecken wir die Wunschvorstellung Finns: Erdbeeren. Gestempelt auf die Tischoberfläche, auf einen wie eine Gardine wirkenden Stoff und natürlich direkt in die Mitte des Ziffernblattes.
Finns freies sprachliches Assoziieren findet in den als Cluster angeordneten und surreale Elemente integrierenden Illustrationen sein Äquivalent. Auf der Bildebene werden Assoziationen durch mehrschichtige Collagen, zusammengesetzt aus bestempelten, bedruckten, bemalten und bezeichneten Papieren und Stoffen, die zum Teil gerissen und übereinandergelegt wurden, freigesetzt. Dadurch entwickelt die Illustratorin eine Bildsprache, die anregt und ermutigt, sich eigene Vorstellungen vom Fremden zu machen und so auch das Fremde im Eigenen zu entdecken.
________
Bilderbücher:
Sis, P.: Die unglaubliche Geschichte des Jan Welzl. Hanser Verlag, München, Wien 1993
Ellabad, M: Das Notizbuch des Zeichners. NordSüd Verlag AG, Reihe Baobab, Zürich 2008
Jianghong, Ch.: Han Gan und das Wunderpferd. Moritz Verlag, Frankfurt/M. 2004
Louis, C.: Lius Reise. NordSüd Verlag AG, Zürich 2006
Janisch, H.; Wolfsgruber, L.: Finns Land. Hanser Verlag, München, Wien 2008
Literatur:
Kämpf-Jansen, H.: Ästhetische Forschung. Weg durch Kunst, Alltag und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. Salon Verlag, Köln 2001