Text: Kirsten Winderlich
Wenn Kinder ein geliebtes Tier verlieren, wenn ein Freund oder ein Familienmitglied stirbt, versuchen sie, diesen Verlust zu begreifen. Sie stellen Fragen, um sich das für sie Unerklärliche zu erschließen, und bringen ihre Gefühle zwischen Wut, Traurigkeit und Aggression zum Ausdruck. Die Umgebung, die nahen Erwachsenen sind dabei von immenser Bedeutung. Durch einfühlsames Zuhören können sie Kinder bei ihren Nachforschungen begleiten und den Trauerprozess unterstützen.
Die folgenden Bilderbücher erzählen von Kindern und Erwachsenen, die ein geliebtes Tier oder einen nahen Menschen verloren haben und versuchen, den Tod und Verlust zu begreifen und zu verarbeiten.
Annähern und Verinnerlichen
In der Geschichte »Adieu, Herr Muffin« von Ulf Nilsson und Anna-Clara Tidholm nimmt ein Mädchen Abschied von seinem geliebten Meerschweinchen und begleitet es beim Sterben.
Herr Muffin lebt ganz allein in seinem Haus, einem umgedrehten blauen Karton. Vor dem Haus befindet sich ein Briefkasten, in dem die Familie, bei der er wohnt, immer Leckereien für ihn bereitlegt. An einem Dienstag findet er dort einen Brief von dem Mädchen, das ihn in sein Herz geschlossen hat. Das Mädchen macht sich Sorgen und schreibt: »Herr Muffin, ich bin so traurig, weil Papa sagt, dass alte Meerschweinchen plötzlich sterben können…«
Herr Muffin frisst den Brief auf.
An dieser Stelle drängt sich die Assoziation auf, dass Muffin durch diese Handlung den Gedanken an das eigene Sterben zu verinnerlichen beabsichtigt. Oder will er die Sorge des Mädchens zerstreuen? Denn auf dem Bild sehen wir den Brief, in Fetzen zerrissen, die an Schneeflocken erinnern.
Herr Muffin nimmt den Brief als Impuls, über seinen nahenden Tod nachzudenken. Er wird bald sterben, und das weiß er jetzt, denkt über sein Leben nach und lässt die Stationen Revue passieren. Seine Frau Viktoria ist bereits gestorben. Sie wurde aus dem Leben gerissen und konnte sich nicht auf ihren Tod vorbereiten.
Anders Herr Muffin, der seine Kräfte schwinden spürt und an sein vergangenes, erfülltes Leben zurückdenkt. Sechs Kinder hatten Viktoria und Muffin. Sie waren glücklich. »Aber jetzt waren alle aus dem Haus und Herr Muffin seufzt.« Das Bild zeigt seine Erinnerungen wie Spots, die vor aquarell-farbenem, grauwolkigen Hintergrund aufscheinen. Muffin taucht in die Erinnerungen ein, und in diesem Moment weiten sich die Bilder teilweise über eine Doppelseite, zeigen frische Szenen, in denen Garten und Landschaft dominieren, denn die Meerschweinchen-familie lebte draußen, nicht im Käfig. Die Haustiere hatten das Glück, die Welt erleben zu dürfen. Aber ihr Leben war nicht sorgenlos und ohne Kummer. Viktoria starb, nachdem sie von einer Biene in die Nase gestochen wurde, als sie an einer Blume schnuppern wollte. »Warum gibt es Bienen?« fragt Herr Muffin sich noch heute, weil ihm der Tod seiner Frau sinnlos erscheint. Nun steht Muffins Tod bevor. Er wird krank. Bauchschmerzen erschweren sein Leben.
Muffin versucht, sich auf den bevorstehenden Tod vorzubereiten, indem er alles aufzählt, was das Leben ihm gegeben hat. Es ist ein Festhalten am Leben. »Ich habe es gut gehabt, besser als die meisten«, konstatiert er und listet auf: »i sehr kluge und freundliche Frau. 1 kleines blaues Haus mit eigenem Briefkasten. 6 kuschelige kleine Kinder. 3-mal am Tag gestreichelt worden. Das ergibt 7665-mal in meinem Leben. 728 Gurken im Leben. 2555 Arm voll Gras, Heu und Pusteblumen. Und dann und wann Post im Briefkasten.«
Herr Muffin betrachtet die Fotos in seiner Wohnung, die als Bilder im Bild besondere Momente seines Lebens zeigen. Da ist seine Frau zusammen mit,den gemeinsamen Kindern zu sehen und auch Herrn Muffin selbst, damals noch so kräftig und stark, dass er eine ganze Gurke auf dem Rücken tragen konnte.
Aber nicht nur Herr Muffin bereitet sich auf seinen bevorstehenden Tod vor, sondern auch das Mädchen, das ihn liebgewonnen hat. Es schreibt ihm Briefe und versucht, ihm und damit sich selbst die Sorgen zu mildern.
Nachdem die Tierärztin dem Mädchen durch die stumme Geste des Kopfschüttelns vermittelt hat, dass sie nichts mehr für das Tier tun kann, schreibt das Mädchen Herrn Muffin folgende Zeilen: »Papa sagt, es ist nicht schlimm zu sterben. Man kann schlafen und es tut einem nichts mehr weh. Es geht schnell und dann hat man seine Ruhe. Wir werden alle sterben — du und ich und Papa. Vielleicht trifft man seine Mutter und seine Frau wieder? Aber ich weiß nicht, ob es einen Himmel gibt…«
Das Mädchen steckt den Brief als Bekräftigung seiner Zuneigung in einen Umschlag mit fünfzehn Herzen und legt als Zeichen seiner Fürsorge drei Mandeln bei. Wieder frisst Herr Muffin den Brief. Die Bilder erscheinen jetzt vor dunklerem Hintergrund. Dieses Mal wird das Zerknabbern des Briefs von Niesen begleitet. Die Briefflocken fallen nicht mehr leicht wie Schnee, sondern wirbeln herum. Erneut werden Wettererscheinungen in Bild und Text herangezogen, um den Prozess des Sterbens zu verdeutlichen.
Die Familie, bei der Herr Muffin lebt, nimmt genau wahr, dass sich sein Gesundheitszustand verschlechtert. Das Mädchen schreibt einen letzten Brief, in dem es Herrn Muffin auf innige Weise anspricht und versucht, sich in seine Situation einzufühlen. Diese Nähe soll ihm selbst und dem Meerschweinchen die Angst nehmen. Es schreibt: »Hoffentlich wirst du nicht traurig wegen dem, was ich dir gestern geschrieben habe. Ich bin auch die ganze Nacht weg gewesen und habe in meinem Bett gelegen und an den Tod gedacht. Ich glaube, entweder ruht man sich nur aus und davor muss man keine Angst haben. Oder man kommt in den Himmel und alles wird gut.«
Nachdem Herr Muffin den Brief gelesen hat, schafft er es nur, ein Stückchen davon anzuknabbern. »Dann gibt es einen Stich im Magen und es tut fürchterlich weh. Er legt sich hin. Und plötzlich ist er tot.«
Auf den folgenden Seiten werden alle Rituale um den Tod und die Beerdigung beschrieben. Es gibt eine Traueranzeige, ein Zeitungsartikel informiert über den Tod von Herr Muffin, und seine Beerdigung wird im Radio und im Fernsehen übertragen — wie bei einer in der Gesellschaft bedeutenden Person. Dies zeigt, welche Bedeutung das Tier im Alltag der Familie hatte.
Schließlich können wir Herrn Muffin Tod in drei verschiedenen Stadien betrachten: während der Leichenstarre wie auf einem Obduktionstisch aufgebahrt, friedlich unter einem Taschentuch und von Löwenzahnblumen umringt, in einem Pappkarton, seinem Sarg, mit Beigaben und Reliquien. »Die Sachen, die er am liebsten hatte: Ein kleines Meerschweinchen aus Ton, das aussieht wie Viktoria, ein Bild von sechs süßen kleinen Kindern, ein paar Mandeln, etwas Knäckebrot, ein Stückchen Gurke. Und der allerletzte Brief.«
Nachdem die Beerdigung mit viel Zeremoniell in einer Ecke des Gartens vorüber ist, erscheint der Brief neben dem zugeschütteten Grab, das einem bleibenden schwarzen Loch gleicht. Wir lesen den letzten Brief des Mädchens als einen unsicheren, fragenden Nachruf, der uns Zaungäste der letzten Lebensmomente des Meerschweinchens berührt und auffordert, mit dem Mädchen nachzusinnen. Das Mädchen fragt nämlich: »Der Tod ist doch zum Ausruhen, oder?« Und: »Warum sollte man vor dem Tod Angst haben? So ist es doch, Herr Muffin, oder? Du weißt es doch?« Diese letzten Fragen könnten auch unsere Fragen sein.
Trauer leben
Konnte dieses Mädchen sein geliebtes Tier, das Meerschweinchen, beim Sterben begleiten und sich dabei mit dem Tod als unwiderruflichem Ende auseinandersetzen, scheint der Tod des Haustiers das Mädchen in der Geschichte von Peter Schössow unvorbereitet zu treffen. Angespannt, fast grimmig bewegt es sich, eine rote Damenlackleder-Handtasche hinter sich herziehend, durch den Park und irritiert die Parkbesucher, weil es immer wieder laut fragt: »Gehört das so??!«
Das Verhalten des Mädchens ist ungewöhnlich, vielleicht sogar impertinent und passt nicht zu seinem braven Kleidchen mit Spitzenkragen und den weißen Kniestrümpfen. Die Verwunderung und Irritation der Leute im Park, einem öffentlichen Raum, der Menschen eigentlich zusammenbringen und Möglichkeiten des Austausches bieten soll, bleibt jedoch für das Mädchen folgenlos. Lediglich sechs skurrile Figuren, die vielleicht für die Randständigen unserer Gesellschaft stehen, wollen wissen, was los war. Sie folgen dem Mädchen und erleben immer wieder die gleiche Situation. Ein verzweifeltes Schreien und »Schulterzucken. Aber bei allen.« So geht es weiter. »Bis die Lange, die zu uns gehörte, sich traute: >Was ist eigentlich los mit Dir?<« Und nun erfahren wir es. Erst mitten in der Geschichte brüllt das Mädchen: »Elvis ist tot!« Weil alle sofort an den,berühmten Rock’n-Roll-Star denken, schreit das Mädchen vorerst ein letztes Mal: »Mein Elvis!« Es öffnet seine rote Lackhandtasche, und wir erblicken einen kleinen gelben Vogel, wie in einem Sarg.
Das Öffnen der Tasche gestattet den anderen Figuren des Bilderbuchs und uns als Betrachter nicht nur einen verstehenden Zugang zur emotionalen Situation des Mädchens, sondern ermöglicht es dem Mädchen, sich seinen Gefühlen gegenüber zu öffnen, sie zuzulassen. Es beginnt zu weinen. Erst jetzt kann es getröstet werden, was die sechs Begleiter auch auf rührende Weise tun. Wie in einer Prozession ziehen alle durch den Park, inszenieren eine Trauerfeier »mit allem Drum und Dran. Mit Kerze, Kranz mit Schärpe, Blumen, Weihrauch…« und hören dem Mädchen zu, »wie Elvis so gewesen war.« Dabei müssen alle ein bisschen lachen, weil sie sich vorstellen, wie es wäre, wenn der eine Elvis den anderen im Himmel träfe.
Diese ambivalenten Gefühle, die in Trauerprozessen häufig tabuisiert werden, unterstützt Peter Schössow durch seinen comichaften Illustrationsstil. Die Überzeichnung der Figuren stellt die Ernsthaftigkeit der Gefühle nicht in Frage, bietet jedoch dem Lachen im Sinne der Verarbeitung des Verlusterlebnisses einen ebenbürtigen Raum. Nicht umsonst schließt die Geschichte mit den Worten »Schön war’s«, was sich ganz bestimmt nicht nur auf die Beerdigungsfeier bezieht, sondern auch auf die Zeit, die das Mädchen mit dem verstorbenen Weggefährten teilte.
Zwischen Trauer und Erinnerung
Um dieser Zeit während der Trauer Raum zu geben, sind Bilder, insbesondere die inneren Bilder, sehr hilfreich. Marit Kaldhols Bilder in dem bereits 1988 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichneten Bilderbuch »Abschied von Rune« zeigen die Trauer
eines kleinen Mädchens um seinen Freund.
Sara, vielleicht sechs Jahre alt, verliert Rune beim gemeinsamen Spiel. Beide Kinder hatten am Wasser einen Hafen gebaut. Dann wollten sie ein Haus bauen. Sie spielten, sie wären groß, Mann und Frau. Rune hatte sein Boot mitgenommen, mit dem er wie die Erwachsenen in der norwegischen Fjordlandschaft zum Angeln fahren wollte. Er gibt Sara noch einen Abschiedskuss. Sara winkt und verliert dabei ihren Handschuh. Sofort spürt sie, wie kalt es draußen noch ist, und rennt nach Hause, um sich mit trockenen Handschuhen auszurüsten. Als sie ans Ufer zurückkehrt, sieht sie Rune im Wasser treiben. Jede Hilfe kommt zu spät. Rune ist tot.
Sara ist geschockt und unendlich traurig.
Das Unglück geschah wahrscheinlich im Frühherbst. Man kann noch in dicken Pullovern draußen spielen, ohne Mütze. Aber Handschuhe erleichtern das Spiel.
Nach Runes Tod geht Zeit ins Land. Es wird Winter und Frühling werden, und Sara gelingt es, auch ohne ausschließlich traurige Gefühle an Rune zurückzudenken.
Als Rune ertrunken war, kann Sara seinen Tod nicht begreifen und wünscht sich, außer sich vor Verzweiflung, ihren Freund sehnlichst zurück. Das Bemerkenswerte an dieser Geschichte über die Verzweiflung des Mädchens und der Erwachsenen ist, wie sie mit der Trauer umgehen. Mutter und Großmutter sind Sara körperlich sehr nah, halten sie fest in ihren Armen, trösten sie und sprechen trotz des alle sehr betroffen machenden Schicksalsschlags immer wieder über die Unwiderruflichkeit des Todes. »Sehe ich ihn wirklich nie, nie mehr wieder?« fragt Sara. »Nein, nie wieder«, antwortet die Mutter. »Ich will aber, dass Rune wiederkommt, Mama. Ich habe solche Lust mit ihm zu spielen«, sagt Sara. Und die Mutter antwortet: »Rune ist tot und kann nie mehr zu uns kommen. So ist das, Sara.«
Die Erwachsenen meiden Sara mit ihrer Trauer nicht, sie verstummen nicht, sondern zeigen ihre eigene Trauer und lassen ihre Gefühle zu. Aus dem Erlebnis, mit den eigenen Gefühlen der Trauer, Wut und Ohnmacht nicht allein zu sein, schöpft Sara wahrscheinlich die Kraft und auch die Fähigkeit, selbst Trost zu spenden. Auf der Beerdigung geht Sara zu Runes Schwester Ruth und versucht, sie zu trösten, indem sie ihr erzählt, dass Rune nicht ganz fort sei, dass sie ihn vor sich sehen könne, wenn sie an ihn denke.
Die inneren Bilder, die uns helfen können, von einem geliebten Menschen Abschied zu nehmen, den Tod zuzulassen, ohne diesen Menschen aus dem eigenen Leben zu verbannen, spielen eine besondere Rolle in den Illustrationen Marit Kaldhols. Sie finden ihren Ausdruck in der Aquarellmalerei, die Gefühle nicht nur durch die auseinanderlaufenden Farben vorstellbar macht, sondern auch in den Landschaften, die der Natur und dem Wetterwandel der Jahreszeiten ausgesetzt sind. Wie durch ein Fernglas fokussiert, blenden die schwarz-weißen Aquarelle die Vergangenheit in den linear in die Zukunft fortschreitenden Handlungsstrang, zeigen aber auch Vorstellungen und Fantasien zum Tod und zum Tot-Sein. Sie zeigen die Erinnerungen Saras an den Unfall, an Rune, an das gemeinsame Spiel, aber auch Vorstellungen von Rune, unter der Erde begraben. Auf einer Seite betrachten wir Rune nackt, in der Embryohaltung schlafend und mit einem Teddy im Arm. Der Text erklärt, dass es sich dabei um Saras Vorstellung vom begrabenen Rune handelt. »Sara will zu dem Loch in der Erde und auf den Sarg hinuntersehen, nur noch einmal. Da unten liegt Rune«, denkt sie. »Dort wird er immer liegen. Er liegt ganz still. Und ganz allein«, stellt sie sich vor. »Und er wird nie mehr Schmerzen fühlen«, tröstet sie sich.
Mit ihrer Vorstellungskraft und Fantasie setzt Sara sich nicht nur mit dem Tod auseinander. Die kleinen Aquarelle fokussieren ebenso Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse, an ihr Spiel mit Rune und ihre Ausgelassenheit. So werden sie zu Vor-Bildern für eine Form des Umgangs mit Verlust, nämlich: sich in Erinnerung rufen, wie der Verstorbene das Leben der Hinterbliebenen bereicherte, ohne dessen allgegenwärtigen Tod auszublenden.
Träumen und nachdenken
Das Mädchen in der folgenden Geschichte versucht, ähnlich wie Sara, den Tod und Verlust des Vaters durch das Nachdenken und Nachsinnen über das gemeinsam Erlebte und Gelebte zu begreifen. Dabei spielt Naturerleben eine ebenso bedeutende Rolle wie in der Geschichte von Sara und Rune. Anders ist jetzt jedoch, dass »Das Mädchen unter dem Dohlenbaum« seine Trauer und seinen Schmerz überwiegend mit sich allein abmacht. Sein Gesicht wirkt auf den Bildern von Kristiina Louhi verschlossen, und seine Körperhaltung erscheint — bis auf die letzte Seite — statisch, fast unbewegt.
Während das Mädchen auf seine Mutter wartet, beobachtet es die Dohlen in den Baumwipfeln und erinnert sich an seinen Vater. In der poetischen Erzählung Riita Jalonens nehmen wir Anteil daran, wie sich das Mädchen mit den Veränderungen in seinem neuen Leben ohne Vater auseinandersetzt und eigene Vorstellungen vom Tod entwickelt. Diese Vorstellungen unterscheiden sich stark von den Klischees, die Erwachsene gern nutzen, um Kindern den Tod zu erklären.
In seiner Trauer und Sprachlosigkeit nimmt das Mädchen in der Routine des Alltags häufig unbeachtet bleibende Naturphänomene sehr intensiv wahr. Das Besondere dieser Wahrnehmung ist, dass sie alle Sinne einbezieht und sich zwischen Fantasie und Realität entfaltet. So entdeckt das Mädchen die Dohlen in den Baumwipfeln, die ihm wie glühende, heiße Vögel erscheinen. Als sie auffliegen, spürt das Mädchen, wie die Bäume rauschen, wie die Äste zittern und alles im Geschrei der Vögel versinkt. Die Wahrnehmung der Außenwelt ist so stark, dass das Mädchen das Gefühl hat, es werde ein Stück kleiner.
All das, was es außerhalb seiner selbst beobachtet und wahrnimmt, lässt das Mädchen immer wieder an die Vergangenheit, an seinen Vater und den Tod denken. Mehr noch: Die besondere Wahrnehmung für die Natur scheint dem Mädchen zu helfen, sich den Vater zu vergegenwärtigen und dessen Tod zu verarbeiten. So empfindet es zum Beispiel den Baum, als sei er verrostet. »Wenn man ihn anfasst, bleibt rostiger Schmutz an den Fingern kleben.«
Diese Beobachtung regt das Mädchen an, den Baum wie das Boot, das sie zu Lebzeiten des Vaters besaßen und »Sternenhimmel« nannten, waschen zu wollen. Nachdem der Vater gestorben war, hatte die Mutter es zur Enttäuschung des Mädchens weggegeben. Für das Mädchen ist das Boot weggeflogen wie die Dohlen.
Obwohl das Mädchen weiß, dass sein Vater tot ist, dass er im Himmel ist, hat es manchmal das Gefühl, es sehe ihn: zum Beispiel eines Tages am Fenster, im fünften Stock des gegenüberliegenden Hauses. Das Mädchen spricht mit ihm und hat das Gefühl, er höre es. »Dann ist es, als hätte ich es einfach vergessen. Ich gehe von der Schule nach Hause und denke, dass wir miteinander Fahrrad fahren wollen. Das geht manchmal richtig lange so, und dann fällt es mir wieder ein.«
Auf den Bildern vor den farbigen, großflächigen Malereien, die für die bewegten inneren Bilder der Erinnerung an das gemeinsame Leben mit dem Vater stehen, erscheint das Mädchen wie erstarrt. Es ist allein und traurig. Der bevorstehende Umzug in die fremde Stadt macht ihm Angst. »Ich weiß nämlich, dass ein neuer Anfang noch mal mehr Erinnerungen bedeutet. Zum Beispiel müsste ich die Tafel in unserem Klassenzimmer in Erinnerung behalten und vieles andere genauso. Wenn ich die Erinnerungen alle in einen Rucksack packen müsste, würde dieser ganz schön schwer.« Hier werden die Befürchtungen des Mädchens durch ein Bild dargestellt, das nur seine Beine und den beginnenden Rumpf zeigt. Diese Darstellung suggeriert, dass das, was das Mädchen im Moment schultert, die Darstellungsmöglichkeit sprengt. Aber dann befreit es sich und fliegt diagonal über die nächste Doppelseite in den Himmel. Die Last, angesichts des Verlusts für das Mädchen kaum zu ertragen, liegt auf der Erde. Darüber hinaus spricht das Bild von der starken Sehnsucht des Mädchens, dem Vater nah zu sein, die sich fast in eine Todessehnsucht verwandelt. Denn in den Himmel kommt man erst, wenn man tot ist, weiß das Mädchen.
Doch diese Sehnsucht bleibt nur für einen Moment bedrohlich. Wieder in der leeren Wohnung, liegt das Mädchen ganz entspannt auf dem Sofa, den Teddy eng umschlungen, als würde es ihm den Trost geben, den es selbst gebrauchen könnte. Es lauscht seiner Umgebung und sinnt seinen Gedanken nach.
Das Mädchen darf jetzt neben der Mutter schlafen, wann immer es will.
Der Teddy liegt an der Stelle in der Kuhle, in der es immer gelegen hatte, als der Vater noch lebte.
Das Mädchen sagt nun nicht mehr Papa, sondern Vater. »Das ist der Unterschied«, denkt es, der Unterschied zwischen Präsenz und Abwesenheit, zwischen Leben und Tod.
Auf einem Bild umarmt das Mädchen einen Baum fest. Es wirkt fast so, als sammle es seine Kräfte, haben Bäume in Skandinavien doch eine hohe mythologische Bedeutung für die Stärkung der Lebenskräfte.
Der Bär rutscht nicht nur an die Stelle des Mädchens im elterlichen Bett, sondern scheint wie die Dohlen und der Baum eine Brücke zum Vater darzustellen. Nie wird das Mädchen seinen »Fliegerbär« hergeben, erzählt es. Das begleitende Bild ist diesbezüglich nicht eindeutig. Es ist ungewiss, ob der Bär nur auf den Balkon fällt. Neben dem Fall suggeriert das Bild den Flug in den Himmel und damit den labilen Gefühlszustand des Mädchens.
Die Dichte an Erzählungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen des Mädchens vermittelt den Eindruck, als ginge es in der Geschichte nicht um Minuten und Stunden, sondern um Wochen und Monate. Zwar nehmen die Gedanken des Mädchens in realer Zeit nur ein paar Minuten ein, aber lassen sich Verlust, Schmerz und Trauer in Zeitkategorien pressen? Wahrscheinlich nicht. Dennoch ist es erleichternd und stimmt zuversichtlich, das Mädchen schließlich leicht beschwingt von einem Bein auf das andere hüpfen zu sehen, während es »Zwölf, dreizehn, vierzehn« zählt – offen für das, was kommt.
Traurig sein
So einsam und allein sich Kinder in ihrer Trauer und ihrem Schmerz beim Tod eines nahen Menschen fühlen, so Trost spendend kann ein Buch sein, in dem sich ein Erwachsener mit seinen Verlust- und Trauererfahrungen Kindern öffnet und zeigt.
»Mein trauriges Buch«, geschrieben von Michael Rosen und illustriert von Quentin Blake, ist ein solches Buch. Michael Rosen erzählt über das Leben nach dem Tod seines Sohnes Eddie. Schon auf den ersten Seiten nehmen wir an Rosens Gefühlstaumel zwischen tiefer Traurigkeit, Wut, Verzweiflung, Ohnmacht, Aggression, Schuldgefühlen und Einsamkeit teil, die er folgendermaßen beschreibt: »Weil ich traurig bin, werde ich manchmal etwas verrückt: Ich schreie unter der Dusche, ich schlage mit dem Löffel auf den Tisch, ich blase die Backen auf und puste huuuh, puuuh, huuuh.«
Die Traurigkeit ist einfach da, und sie scheint manchmal gar nicht direkt mit der Trauer um Eddie zu tun zu haben. Rosen denkt über Traurigkeit nach und überlegt, ob sie daher komme, »dass vielleicht alles nicht mehr so ist, wie es einmal war. Also habe ich etwas Trauriges in mir, weil sich alles so verändert hat.«
Dieses Nachdenken zieht sich durch das gesamte Buch und wird schließlich poetisch, wird zum Gedicht. »Was ist traurig? Traurig ist nirgendwo. Es kommt und findet dich. Wann ist traurig? Traurig ist irgendwann. Es kommt und findet dich. Wer ist traurig? Traurig ist irgendwer. Es kommt und findet dich.« Auf der nächsten Seite schreibt Rosen:
»Traurig ist ein Ort
tief und dunkel
wie der Platz unter meinem Bett
Traurig ist ein Ort
hoch und hell
wie der Himmel über meinem Haupt
Ist es tief und dunkel
will ich nicht hinein
Ist es hoch und hell
will ich luftig sein.
Am Ende heißt das, dass ich nicht
hier sein will.
Ich möchte einfach verschwinden.«
Die Federzeichnungen Quentin Blakes begleiten das Nachdenken über Traurig-sein, über das Leben vor und nach dem Verlust des Kindes wie farbig kolorierte Spots. An einigen wenigen Stellen werden die Zeichnungen farblos. Vor grau aquarelliertem Hintergrund zeigt Blake Rosens Gemütsverfassung: ein gebeugter Mann mit hohlen, trauernden Augen, kraftlos über ein Brückengeländer gelehnt oder auf dem Bett, nicht wach noch schlafend. Auf der letzten Seite finden wir eine Mischung beider Illustrationsstile. Kerzenschein strahlt Rosens Gesicht an und verleiht ihm einen lebendigeren Gesichtsausdruck.
Die Illustrationen erzählen nicht nur vom Leben in seinen marginalen Facetten und zeigen einen trauernden Menschen ohne Voyeurismus, sondern Quentin Blake fühlt in seinem Bildern mit Michael Rosen mit, nimmt Anteil an dessen Schicksal — ohne Worte.
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Bilderbücher:
Jalonen, R./Louhi, K.: Das Mädchen unter dem Dohlenbaum. Carl Hanser Verlag, München 2007
Nilsson, U./Tidholm, A.-C.: Adieu, Herr Muffin. Moritz Verlag, Frankfurt am Main 2003
Oyen, W./Kaldhol, M.: Abschied von Rune. Heinrich Ellermann Verlag, München 1986
Rosen, M./Blake, Qu.: Mein trauriges Buch. Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus, Stuttgart 2006
Schössow, P: Gehört das so??! Carl Hanser Verlag, München 2005