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Ich war die ganze Welt

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Ich war die ganze Welt
Ulrike Möltgen

Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer

Wer kann sich nicht an Momente in der Kindheit erinnern, in denen man sich unter die Bettdecke kuschelte und versuchte, auf seine Träume Einfluss zu nehmen? Manchmal war es die Angst vor der Nacht, manchmal aber auch die Lust, sich im Traum zu spüren, oder einfach auch die Langeweile, die einen träumen ließen. So auch in Ulrike Möltgens Bilderbuchdebüt, in dem die Protagonistin im Bett lag und träumte, sie wäre »die ganze Welt«. So lag der Dschungel in ihrer Hand. »Die Knie waren Felder«. Und der Löwe Trinidad saß in ihrem Haar. »Er sitzt nur da / Im sanften Wind / Da weht sehr schön sein Haar«, heißt es im Text. Leichtfüßige freie Verse ziehen sich durch das gesamte Buch und tragen die traumwandlerische Dramatik, die durch pastos aufgetragene Ölfarben, Kreiden, gesprühte Farbigkeit und vielschichtige Material- und Papiercollagen sowie aufrüttelnde Perspektivwechsel Bild werden. Beschreibt der Text zu Beginn aus der Wahrnehmung des Mädchens, wie sein Leib im Traum mit der Welt verschmilzt, bekommt das fantastische Ereignis nach der großen Langeweile ein Eigenleben. Und Langeweile ist in diesem Zusammenhang nicht negativ zu verstehen, sondern ganz im Gegenteil! – als Motor für Fantasie und Ermächtigung! Die Protagonistin liegt mittlerweile nicht mehr im Bett, sondern positioniert sich kopfüber von einem Sessel hängend, die gewohnten Selbst- und Weltverhältnisse außer Kraft setzend. Im nächsten Moment sehen wir uns einem Zirkuszelt gegenüber. »Das Popcorn hüpft / Es hüpft das Kind / Das Eintrittsgeld ist teuer«. So katapultiert sich das Kind auf die Schnüre, die das Bild durchziehen, und sichert sich auf diese Weise eine exklusive Sicht auf das kommende Geschehen. Wieder tritt die Langeweile ins Spiel – dieses Mal jedoch mit ihrem anderen Gesicht. So gähnt das Publikum angesichts der Sperenzchen des Clowns, und der Zirkusdirektor mit Kaiser-Wilhelm-Bart sieht sich genötigt einzugreifen und sich eine sichere Attraktion zu »angeln«. So kommt es dann, dass »Herr Direktor Zampano« mit seiner Peitsche einen Bogen über die (Traum-)Welt des Mädchens schlägt, den Löwen mit einem großen Netz entführt, in einen engen Käfig sperrt und diesen trotz seines zornig lauten Brüllens zu einem Auftritt in der Manege verdonnert. »Die Peitsche knallt / Der Löwe springt / Und es gibt / Spannung Staunen / Starren Geld // Aber«. Aber das Mädchen wehrt sich und lässt »die Erde beben«. Herangezoomt an die, wie nach einem schlechten Schlaf, zerwühlten Bettsachen oder die zerberstende Traumwelt, werden wir Zeuge, wie das Zirkuspublikum aufgeschreckt seine Kinder schnappt und panisch Reiß aus nimmt. Das Zirkuszelt ist nun wie leergefegt. Nur der Löwe hockt noch dort, wieder sanft wie ein Kuscheltier. Das Mädchen nimmt ihn vorsichtig in die Hand und trägt ihn zurück in ihre Welt. Uns wird noch ein letzter Blick auf den Löwen gestattet, der jetzt im ausdrucksstarken Bild alles Durchlebte vereint – das Gefühl des Geborgen- wie das des Eingesperrt- und Ausgeliefert-Seins. Sein Bild bekräftigt noch einmal, was zum Schluss zu lesen ist: »Nun schließ das Buch / Die Augen zu / Und träum, was dir gefällt.« Denn, das wissen wir jetzt: Wir können es!

Ulrike Möltgen
Ich war die ganze Welt
Peter Hammer 2025
32 Seiten, gebunden, 19,7 x 21,9 cm
ISBN: 978-3-7795-0770-3
€ (D): 18 / € (A): 19 / CHF: 28,90

Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption:

Die Aufforderung »Träum, was dir gefällt« verführt zu sagen: Träum, wo du willst! Und träume, mit wem du willst! Was meinst du, gibt es Orte in der Schule, an die du dich gerne zurückziehen und träumen würdest? Wo wäre das? Wen würdest du gerne mitnehmen? Begebt euch dorthin. Vielleicht mögt ihr eine Matte, eine Decke oder ein Kissen mitnehmen. Macht es euch dort gemütlich. Wir machen ein Foto, wenn ihr es erlaubt.

Schwarz-Weiß-Fotografien von den Kindern an ihren Sehnsuchtsorten in der Schule, lebensgroß hochkopiert, können den Hintergrund für Collagen und Malereien ihrer Traumwelten bilden und auf diese Weise die Rezeption des Bilderbuches erweitern. Die Sehnsuchtsorte zu zweit oder in kleinen Gruppen aufzusuchen, macht zudem die Wirksamkeit der Zusammenarbeit für die Selbstermächtigung erfahrbar.

Der Workshop wurde mit einer jahrgangsübergreifenden Klasse (1 bis 3) der Gustav Falke Schule in Berlin-Wedding durchgeführt.

Konzept der Bilderbuchwerkstatt: Kirsten Winderlich, Elisa Bauer und Helen Naujoks
Raumgestaltung: Elisa Bauer und Helen Naujoks
Fotos »Sehnsuchtsorte der Kinder in der Schule«: Elisa Bauer
Durchführung: Kirsten Winderlich, Elisa Bauer und Helen Naujoks unter Mitarbeit von Lis Winderlich