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Ich bin wie der Fluss 

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Ich bin wie der Fluss
Jordan Scott / Sydney Smith (Ill.)

Text: Kirsten Winderlich
Repros: Elisa Bauer
Fotos: Helen Naujoks

Am Morgen ist noch alles in Ordnung. Der Junge wacht mit dem Klang der Wörter auf. »B für den Baum draußen vor meinem Fenster. K für die Krähe in seinen Zweigen«, nimmt er wahr. Wenig später treibt das B jedoch Wurzeln in seinem Mund, die seine Zunge umzingeln. Und die Krähe krallt sich in seinen Rachen. Der Junge kann den Klang der Wörter zwar hören. Er kann sie aber nicht sagen. Er stottert. Und so beginnt sein Tag wortlos.
In der Schule wird es schlimm. Inständig hofft der Junge, dass er nichts sagen muss. Er hat Angst davor, dass ihn alle anschauen werden, denn sie »sehen nicht den Baum, der mir statt der Zunge zwischen den Lippen wächst. Sie hören nicht die Krähe Rax! Rax! in meinem Rachen krächzen.« Sydney Smith zeigt diese Angst und Bedrängnis, angeschaut zu werden, auf einer Bildseite, die er mit 16 aquarellierten Porträts übersät. Wir betrachten Gesichter, die, aquarelliert, in ihrem Ausdruck schemenhaft, verzerrt und tränenüberströmt wirken. Wenn es gar nicht mehr geht, muss der Vater seinen Sohn abholen. So auch heute. »In mir hat sich alles verklumpt, so schlimm war es noch nie«, sagt der Junge. Der Vater fährt mit dem Jungen zum Fluss. Obwohl es guttut, schweigend zu spazieren, kann der Junge nicht aufhören, an die Schule zu denken, an den Moment, als sich seine Lippen verzerrten und ihn alle anstarrten und auslachten. Der Vater tröstet und sagt: »Siehst du das Wasser? Wie es sich bewegt? Das ist, wie du sprichst. Das bist du.« Diesen Schlüsselmoment stellt Sydney Smith in sechs Sequenzbildern dar, in denen er uns an die rahmenden »Augenblicke« des Jungen, an das Sprudeln, Wirbeln, Gischten und Vorwärtsdrängen des Flusses heranzoomt. Sehen wir zu Beginn der Sequenz in geöffnete, auf den Fluss gerichtete Augen, sind die Augen am Ende der Sequenz geschlossen, und wir können uns vorstellen, wie der Junge in sich hineinhorcht und das Bild des Flusses in sich aufnimmt.
Meisterhaft setzt der Künstler diesen Moment auf der folgenden Doppelseite um, die aufgeklappt ein Leporello von vier Seiten integriert. Wir blicken in das seitenfüllende Gesicht des Jungen, dessen Augen immer noch geschlossen sind. Nach dem Entfalten des Leporellos sprengt ein lichtdurchfluteter, glitzernder Fluss das Format, in den der Junge vorsichtig watet, und wir werden gewahr: Er ist der Fluss!
Während der Junge sich im Fluss treiben lässt, schwimmt und sich dabei von ihm getragen fühlt, weiß er: »Wenn die Wörter um mich herum mir zu schwer sind, denke ich an den stolzen Fluss, wie er sprudelt, gischtet, wirbelt, vorwärtsdrängt.« Und am nächsten Morgen wacht er mit dem Klang der Wörter wieder auf.
Heute ist es anders als sonst. Der Junge geht in die Schule und erzählt von seinem Lieblingsort, dem Fluss. Diese frühen Erfahrungen ließen den 1978 geborenen Dichter Jordan Scott sein Leben lang nicht los, weder die Demütigungen in der Schule noch die Stärkung durch seinen Vater. Und so schreibt er in seinem Nachwort: »Der Tag am Fluss hat für mich alles verändert. Der Fluss hat einen Mund, eine Mündung. Er fließt. Er strömt dahin. Das ist seine natürliche Weise. Unaufhaltsam und geduldig bahnt er sich seinen Weg: auf ein Ziel hin, das größer ist als er selbst. Aber der Fluss stottert in seinem Fluss, genauso wie ich beim Sprechen.«

Dieser Beitrag ist in der Publikation »Verwundbare Kindheiten. Eine Anthologie zeitgenössischer Bilderbuchkunst« erschienen. Hier geht es zur Publikation mit weiteren spannenden Bilderbüchern:
https://wamiki.de/shop/buecher/verwundbare-kindheiten-eine-anthologie-zeitgenoessischer-bilderbuchkunst/

Jordan Scott / Sydney Smith (Ill.)
Ich bin wie der Fluss
Aus dem Englischen von Bernadette Ott

Aladin 2021
44 Seiten, durchgehend farbig illustriert,
Hardcover, 24.6 x 0.85 x 27.3 cm
ISBN: 978-3-848-90197-5
€ (D): 18,00 / € (A): 18,50 / CHF: 28,90

Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption 

Geh zu einem Fluss. Nimm Aquarellpapier und -farben mit.
Bevor du den Fluss zu malen beginnst, sprich die Worte von Jordon Scott: »Wenn die Wörter um mich herum mir zu schwer sind, denke ich an den stolzen Fluss, wie er sprudelt, gischtet, wirbelt, vorwärtsdrängt.«
Wenn du magst, ergänze die Worte von Scott mit deinen eigenen. Dann male den Fluss.

Folgende Anregungen zur erweiterten ästhetischen Rezeption sind von Verena Harnisch.

Verena Harnisch hat diese im Rahmen eines Masterseminars von Kirsten Winderlich zum Thema »Verwundbare Kindheiten« entwickelt und für diese eine Bilderbuchwerkstatt konzipiert und mit Kindern, einer 1. Klasse der Grundschule am Rüdesheimer Platz in Charlottenburg-Wilmersdorf, durchgeführt. Einen Einblick geben die Fotos von Helen Naujoks.

Zur Einstimmung begibt sich die Lerngruppe an einen Fluss, in unserem Fall an den Landwehrkanal. Ein Innehalten an ausgewählten Orten, wie zum Beispiel dem Wasserfall einer Schleuse, sensibilisiert die Kinder für die unterschiedlichen Geräusche des Wassers. Nach einem Spaziergang entlang des Flusses erhalten die Kinder ein 3 x 3 Meter großes in zartem Türkis gehaltenes Stofftuch, das sie am Rand festhalten und gemeinsam bewegen. In der Bewegung symbolisiert das Tuch den Fluss. Verschiedene Bewegungsimpulse unterstützen die Imaginationsfähigkeit der Kinder: »Wie bewegt sich der Fluss, wenn er ganz ruhig ist? Wie fließt er, wenn er über Steine stolpert? Und wie fühlt es sich an, wenn sich der Fluss still verhält?« Im Anschluss die Hervorlockung innerer Fluss-Bilder durch Bewegung erhalten die Kinder die Gelegenheit, den Fluss durch Farbe zum Erscheinen zu bringen. Konkret stehen hierfür diverse transparente Flaschen mit wasserverdünnten Gouache-Farben im Spektrum von Blau-, über Türkis- bis Grüntönen zur Verfügung. Jedes Kind darf in diesem Zusammenhang einen Farbton wählen und diese aus der Flasche über das Tuch gießen, während die übrigen Kinder dieses vorsichtig bewegen. Fragen, wie zum Beispiel, was die Kinder in den Farbverläufen sehen, oder Reflexionen darüber, an welchen Stellen im Farbspiel der Fluss ›laut‹ oder ›leise‹ erscheint, unterstützen die Kinder das Erlebte und Erfahrene zu verdichten.
Was passiert mit dem Stoff-Tuch nach dem Ausflug und der Performance? Vorstellbar wäre, dass es nach dem Trocknen in die Schule wandert und als Wandbild an die gemeinsame Fluss-Aktion erinnert. Vielleicht wäre auch eine Möglichkeit das Tuch als Tischdecke für gemeinsame festliche Mahlzeiten zu nutzen. Es könnte auch zerschnitten werden, so dass jedes Kind ein Stück der gemeinsamen Erfahrung in den Händen halten kann. Beschrieben mit einzelnen Schlüsselbegriffen aus dem Bilderbuch könnten die Kinder die einzelnen Stücke wieder zusammensetzen und dabei die Geschichte nacherzählen.