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Es war einmal … anders: Märchen

Text: Kirsten Winderlich

Schon die Brüder Grimm haben Märchen mit großer Faszination gelauscht. Die starken Bilder, die zeitlose Nähe zum menschlichen Leben und vor allen Dingen die Spannung und Dramaturgie scheinen Kinder wie Erwachsene gleichermaßen in die Märchenstoffe versinken zu lassen und sie so einander nahe zu bringen. Dabei sind Märchen grausam und schön und eindeutig und verrätselt zur gleichen Zeit. Und gerade diese ineinander verwobene Polarität bewirkt, dass wir uns in ihnen als Individuen wieder finden können und Mut schöpfen das Leben in all seinen Unvorhersehbarkeiten und Widrigkeiten zu meistern. Betrachten wir nun aktuelle Bilderbücher, die Märchenstoffe in künstlerischer Weise zwischen Bild und Text auf neue und fremde Art zum Erscheinen bringen, stellt sich berechtigter Weise die Frage, weshalb wir uns mit diesen teilweise sehr befremdenden Interpretationen der altbewährten und zeitlosen Kunst auseinandersetzen sollten.
Eine Antwort könnte sein, dass die aktuelle künstlerische Bearbeitung der Märchenstoffe zum Infragesstellen des Immer-schon-Gewussten führt und auf diese Weise zum Nachdenken und Nachsinnen anregt. Denn schnell finden wir in den Märchen gleiche Muster, missachten dadurch das jeweils Eigensinnige der einzelnen Stoffe und verhindern vor allen Dingen, die Brücken zum Hier und Jetzt der Gegenwart zu betreten.
Wie die Transformation von Märchen in zeitgenössischen Bilderbüchern die bekannten Geschichten in ihrer eng gewobenen und voraussehbaren Polarität durchbricht, soll im Folgenden an vier Beispielen gezeigt werden.

Angesichts nackter Armut und Not — Hänsel und Gretel
Im Bilderbuch »Hänsel und Gretel« von Jacob und Wilhelm Grimm, das durch die Bilder Susanne Janssens neu erzählt wird, betrachten wir auf dem Buchdeckel die Gesichter zweier friedlich zu ruhen scheinenden Kinder, die fast identisch scheinen. Im Folgenden werden wir Schritt für Schritt an die Tragik der Geschichte Hänsel und Gretels herangeführt. Auf der ersten Seite stechen die Anfangsworte des Märchens stark vergrößert hervor. »Vor einem großen Walde« lesen wir und tauchen sofort auf der nächsten Doppelseite in den dunklen und gefahrenvollen Wald ein. Zu sehen ist ein galoppierender Hirsch, dessen Herz jedoch bereits durch einen Pfeil getroffen wurde. Hinter den Bäumen tauchen Bilderfetzen von Maschinen auf. Ein Rad ist zu erkennen, das nicht zurückgedreht werden kann? Die Geschichte nimmt allerdings noch nicht ihren Lauf, denn nachdem in den Ort des Dramas eingeführt wurde, werden auf den folgenden Doppelseiten mit Text und Bild die Protagonisten vorgestellt. Angesichts der Größe des Textbildes können wir uns selbstverständlich noch an den einführenden Text erinnern. »Vor einem großen Walde« lasen wir und lesen jetzt »wohnte ein armer Holzhacker«. Das ausgemergelte hohläugige Gesicht, der nackte Oberkörper und die große über die Schulter gelehnte Axt unterstreichen die Armut und Not. Das collagetechnisch in das Bild montierte Haus im Hintergrund irritiert, erinnert es doch eher an ein städtisches Mehrfamilienhaus als an eine Holzfällerhütte am Rande eines großen Waldes. Der Holzfäller lebte »mit seiner Frau und seinen zwei Kindern« lesen wir beim Umblättern. Wir sehen aber nur die Frau, im die gesamte Seite ausfüllenden Seitenprofil. Mit starrem, kaltem Blick, der durch ein weiß gepudertes Gesicht, sorgfältig gezupfte Augenbrauen und rot geschminkte Lippen noch unterstützt wird, schaut sie aus der Seite heraus, fort von ihrem Mann. Ihr Blick mahnt die Betrachter,
zügig umzublättern, um dann zu lesen,
wen sie unbeteiligt anschaut. Auf der linken Seite lesen wir »das Bübchen hieß Hänsel« und auf der rechten Seite »und das Mädchen Gretel« und beim Umblättern entdecken wir den Ausschnitt des Buchdeckels wieder. Hier spiegeln sich nicht nur die beiden Gesichter mit geschlossenen Augen, sondern die Geschwister erscheinen mit ihren verschränkten Armen in ihrem Rumpf fast wie siamesische Zwillinge vor rotem Hintergrund miteinander verwachsen. Die schwarze Katze, die wir von vielen Illustrationen auf dem Buckel der Hexe erinnern, erscheint bereits am Körper rot getüncht zwischen ihnen und lässt nichts Gutes erahnen.
Jetzt nimmt die Geschichte ihren rasanten und bekannten Lauf, was durch die erste Doppelseite Text unterstrichen wird. Zeigten die vorangegangenen Seiten entweder ganzseitig Collagen aus Malerei und bearbeiteten Fotos von Textilien, Maschinen und Gebäuden oder Text wie durch ein Vergrößerungsglas, steht der Fließtext der Erzählung im Mittelpunkt. Die grafischen Illustrationen dienen ganz im traditionellen Sinne dem Text und sind diesem bei- und untergeordnet. Bei den Illustrationen handelt es sich um Insekten oder tentakelartige Pflanzen, die erneut den Handlungsort des Dramas, den Wald und die Nacht, zum Erscheinen bringen. Ein Borkenkäfer, ein Nachtfalter und eine Ameise können trotz ihrer schattenhaften monochromen Reduktion eindeutig erkannt werden.
Doppelseitige Texte mit grafischen Elementen und doppelseitige Collagen mit plastischen Malereien und diagonal angeordneten, teilweise auseinander berstenden Bildkompositionen, lösen einander jetzt ab und treiben die Handlung in einer ganz eigenen Dramatik bis zum glücklichen Ende. Die doppelseitigen Bilder thematisieren dabei immer einen dramatischen Höhepunkt im Geschehen. Sie erzählen davon, wie der Vater die Kinder in den Wald bringt. Sie vermitteln den bedrohlichen Wald, in dem die Kinder gezwungen sind, sich der Dunkelheit anzuvertrauen und zum Schlafen zu legen. Auf einem Bild sehen wir die Stiefmutter und den Vater Hänsel und Gretels aufrecht im Bett sitzend und erkennen am eiskalten Gesichtsausdruck der Stiefmutter und ihrem gehobenen fordernden Zeigefinger, wie sie den Mann drängt, seine Kinder ein erneutes Mal in den Wald zu führen, so dass sie aus diesem nie mehr hinaus finden. Auf dem nächsten Bild entdecken wir Hänsel und Gretel mitten im Wald, verlaufen und von vogelartigen Wesen gepeinigt und verfolgt, auf dass diese sich endlos verirren. Ein weiteres Bild zeigt, wie Hänsel und Gretel das Haus der Hexe entdecken. Kein Zuckerbäckerhaus, ein stattliches an einen Speicher erinnerndes Haus, das Stadt und Reichtum suggeriert. Dann sehen wir die Hexe wie eine Diva in rotem Ballkleid die Kinder in das Haus lockend und erkennen sofort das gefährliche Rot wieder, das uns schon von Anbeginn der Geschichte immer wieder ins Auge gestoßen ist, sei es in Form des Hirschherzens, das von einem Pfeil durchbohrt wurde, sei es in Gestalt der Katze, die zwischen den unzertrennlichen Geschwistern hervorlugte, sei es als Stofffetzen am eigenen Kleid der Kinder, oder als waldboden-bedeckendes Tuch, unter dem die Kinder vor der Nacht und Dunkelheit Schutz suchten, oder sei es in Gestalt der Schnäbel dieser Vogelmaschinen-wesen, die den Kindern im Wald nicht nur den rechten Weg versperren, sie am Fortlaufen hindern, sondern ihnen sogar drohen, das Leben zu nehmen. Nachdem ein Stück des roten, rauschenden Stoffes aus dem stattlichen Haus herausschaut, können wir das Kleid der verführenden Bösen in voller Wirkung betrachten.
Das Drama spitzt sich zu auf dem Bild, auf dem die Hexe sich mit weitgeöff-netem Mund und ähnlich spitzen Finger wie die Stiefmutter zu Hänsel herunterbeugt. Hänsel zeigt ihr, wie im Märchen erzählt, ein Knöchlein. Von hinten naht bereits Gretel. Diese trägt ein ebenfalls rotes Scherentier. Wir wissen ja, dass Hänsel Fett ansetzen soll. Der Hummer ist ein groteskes Element in diesem Bild. Steht er doch in vielen kulinarischen Führern auf den ersten Plätzen. Durch Farbe und Scherenwerkzeug steht das Tier in den Händen Gretels jedoch auch für Widerstand gegen das Böse und die baldige Befreiung ihres Bruders. Und so verwandelt sich auf der folgenden Seite das Haus in einen Ofen, in dem die Hexe, wie das herauslugende Kleid zeigt, für immer verschwindet. Rot ist jetzt der Hintergrund, das Feuer. Dass die Befreiung vom Bösen stattgefunden hat, zeigt auch das Abschlussbild, auf dem eines der beiden Kinder bereits am See auf die rettende Ente wartet. Im Wasser schwimmt dort ein riesengroßer Fisch, in eindeutig rotem Gewand, das an das Kleid der Hexe erinnert. Ist die Hexe, das Böse, für immer verbannt? Oder hat hier eine Metamorphose stattgefunden und erzählt uns das Bild, dass das Böse immer da ist und wir beängstigender Weise nie genau wissen können in welcher Form?

Im Schatten — Rotkäppchens List
Die Bilder Susanne Janssens erweiterten den äußeren Handlungsstrang des Märchens durch die Darstellung der inneren Not und Verzweiflung der Kinder. Sie tun dieses durch die Collagen, die irritierender Weise städtische Spuren und Elemente von Maschinen aufweisen. Die Bilderbuchbetrachter werden so gemeinsam mit den Geschwistern in eine Art Großstadtdschungel geführt, in dem sie mit ihren Sorgen, Ängsten und Nöten derart auf sich gestellt sind, dass sie sich wie in einer Notgemeinschaft aneinander klammern. Die besonderen Collagen, die Ausschnitte von Stadthäusern und Maschinen integrieren, unterstreichen nicht nur die innere Verzweiflung der Kinder, sondern stellen einen Bezug zur Gegenwart her.
Den Transfer eines Märchens auf das heutige Leben von Kindern in der Stadt wagt auch Ulrike Persch mit ihrem Bilderbuch »Rotkäppchens List«. In ihrer Bilderbuchgeschichte lebt Rotkäppchen in einem Wohnblock in einer größeren Stadt. Über schwarz-weiß gehaltene Kreidezeichnungen werden wir in Form von zeichentrickhaften Filmstils in die Lebenswelt Rotkäppchens, das über seine rote Kappe und blaue Kleidung als einzige Person farbig hervorgehoben wird, eingeführt.
Der Text ist an vielen Stellen aus dem von den Brüdern Grimm tradierten Märchen bekannt. Die Bilder führen jedoch in eine andere Welt und ermöglichen Perspektiven auf den Alltag eines kleinen Mädchens heute. So lesen wir, dass eines Sonntagmorgens Rotkäppchens Mutter zu ihm sprach: »Komm, Rotkäppchen, da hast du Kuchen und eine Flasche Wein, bring das zur Großmutter; sie ist krank und schwach und wird sich über deinen Besuch freuen…« In geschnittenen Sequenzbildern sehen wir Rotkäppchen im Hintergrund auf dem Balkon stehen und einen Vogel beobachten. Im Vordergrund die Mutter, die eine Tasche packt. Auf dem letzten Bild dieser Reihe verweisen die Absprachen zwischen Mutter und Tochter mit Blick auf die Armbanduhren auf eine starke Selbstständigkeit Rotkäppchens. Die Schwarz-weiß-Zeichnungen, die monoton leeren Straßen und der aufkommende Regen lassen jedoch in Bezug auf Rotkäppchens Alltag eine bedrückende Stimmung aufkommen. Der Wolf, den Rotkäppchen wenig später im Wald trifft, erinnert stark an einen Hund, der kurz zuvor in der Stadt an seiner um einen Laternenpfahl gebundenen Leine zerrte und Rotkäppchen hinterher zu eilen schien. Wie wir wissen macht der Wolf Rotkäppchen auf die schönen Blumen aufmerksam, die Rotkäppchen dann auch pflückt, so viele wie es tragen kann. Die Blumen, als einzige weitere Farbtupfer neben dem Mädchen selbst werden in der Geschichte auf seinem Arm als gelber Strauß sichtbar.
Am Haus der Großmutter angekommen, wundert sich Rotkäppchen, dass die Tür nicht verschlossen ist. Und ab diesem Moment nimmt das Märchen einen unerwarteten Lauf. »Das Mädchen ging die Diele entlang. Die Sonne schien herein, und durch geschickte Handbewegungen wandelte sich der Schatten von Rotkäppchens Hand in einen Wolf mit geöffnetem Maul.« Das bekannte Spiel mit Hand und Schatten ermöglicht dem Mädchen an dieser Stelle ihre eigene Angst zu thematisieren, zu leben und auf diese Weise mit ihr um zugehen. Das Schattenspiel wird zu seiner Waffe, denn im Haus wird aus dem Schatten ein Monster mit starken Pranken. Das Spiel geht weiter. Denn »das Schattenmonster kletterte mit erstaunlicher Geschwindigkeit das Bücherregal hinauf, bis zum Märchenbuch mit Rotkäppchens liebsten Geschichten.« Immer weiter dringt das Mädchen in das Haus vor. Auf der Suche nach der Großmutter verwandelt sich sein Schatten in einen Schützen, in einen Cowboy mit zwei Revolvern. Zwischendurch fand der Schatten Zeit »sich kurz in eine Freiheitsstatue zu formieren«. Nachdem sich Rotkäppchens Schatten im Scheinwerferlicht in einen Geheimagenten verwandelt hat, findet es auf dem Boden Fußspuren und Fellbüschel. Märchen und Wirklichkeit werden hier über das Spiel mit Licht und Schatten in Beziehung gesetzt und deren Grenzen vom Kind selbst bestimmt.
Und dann erzählt das Mädchen das Märchen vom Rotkäppchen auf seine Weise fort. Die Großmutter konnte »sich unter das Bette flüchten«, erzählt es und geht mit seinem Schattenspiel zum direkten Angriff auf den Wolf über. »Rotkäppchen trat in die Tür, doch der Wolf bemerkte nur den Schatten in Form des gefürchteten Jägers. […]. Der Wolf erschrak fürchterlich, die Brille fiel ihm von der Nase, das Buch aus der Hand, voller Angst krümmte er sich auf dem Bett.« In Panik angesichts des Schatten-Jägers, letztendlich Rotkäppchens, rannte er davon. Und »glücklich über seine gelungene List spähte Rotkäppchen ihm hinterher, bis er im dunklen Wald verschwunden war.«
Nachdem das Rotkäppchen und die Großmutter, wie aus dem tradierten Märchen bekannt, glücklich miteinander den Kuchen verspeisen, kehrt das Mädchen zurück in die Stadt. Es hat noch den Auftrag der Mutter zu erledigen, Gemüse einzukaufen. Am Geschäft des Gemüsehändlers sehen wir wieder den Hund, der dem Wolf so ähnlich sieht und der zu Beginn der Geschichte an seiner Leine zerrte, um Rotkäppchen zu folgen.
Ist die Geschichte von Rotkäppchens List doch nur ein Märchen, fragen wir uns, eine Phantasterei eines kleinen Mädchens, das viel alleine ist? Doch spätestens als wir wieder zu Hause bei Rotkäppchen angekommen, Zeuge werden, wie Rotkäppchen die Frage der Mutter, ob es bei der Großmutter schön war, gar nicht wahr nimmt, weil es bereits auf den Balkon gelaufen ist, auf dem es auch schon zu Beginn der Geschichte gestanden hat, und dem kleinen Spatz von seinen Erlebnissen berichtet, erscheint es nicht mehr nötig zu erfahren, was an dieser Geschichte Märchen und Wirklichkeit ist. Die Fantasie ist es und das eigene Spiel, das so existentiell ist für das kleine Mädchen. Betont wird diese Bedeutung auch noch einmal über das mitgebrachte Gemüse, ein Kürbis. Und eignet sich dieser nicht auf wunderbare Weise das entdeckte Schattenspiel mit den Händen weiterzuentwickeln?

Das Böse zwischen Traum und Wirklichkeit — Die dreizehnte Fee
Im Mittelpunkt der vorangegangenen Bilderbuchgeschichte steht die eigensinnige Märchenrezeption eines kleinen Mädchens. Wir können verfolgen, wie vielschichtig das Erleben eines Märchens bei Kindern sein kann. Es löst nicht nur Angst, Schauern, Gruseln aus sondern auch Neugier, Lust und (Schaden)freude. Und vor allen Dingen regte es das eigene Spiel und die eigene Phantasie an.
Die individuellen Rezeptionen von Kindern sind auch in der Bilderbuchgeschichte »Die dreizehnte Fee« von Nikolaus Heidelbach maßgeblicher Motor.
Den Rahmen der Bilderbuchgeschichte bietet das Märchen Dornröschen. Schauplatz ist eine erste Grundschulklasse, der die Klassenlehrerin Frau Kleve das Märchen vorgelesen hat. Zur großen Überraschung der Lehrerin kommen die Kinder über das Märchen lebhaft ins Gespräch. Ein Junge bezweifelt zum Beispiel, dass es in einem Königspalast nur zwölf Teller gebe, ein anderer meint, dass zwölf Feen für ein einziges Kind übertrieben seien. Ein paar Schüler diskutieren, ob es überhaupt verantwortungsbewusst von den Eltern gewesen war Dornröschen an ihrem Geburtstag alleine zu Hause zu lassen, zumal sie bezüglich des kommenden Unheils vorgewarnt waren. Die Klassenlehrerin »Frau Kleve staunt, was den Kindern zu dem Märchen alles einfällt.« Es bleibt nicht dabei. Am nächsten Morgen haben viele Kinder anscheinend schlecht geschlafen, kommen aufgeregt in der Schule an und erzählen von ihren Träumen von der bösen Fee, die sie verwandelt hat.
Seite für Seite werden jetzt die Fantasien der einzelnen Schüler von der bösen Fee vorgestellt. Ein Junge wurde in seinem Traum von der Fee in eine Wachtel verwandelt, die auch noch ein Mädchen war. Ein Mädchen erzählt, dass ihre Fee fliegen konnte, es ihr auch beigebracht hat. Leider hat die Fee dem Mädchen das Fliegen falsch herum beigebracht und alle konnten ihre Unterhose sehen. Da hat es sich geschämt. Ein anderer Junge berichtet, wie seine Fee ihm alle Sachen weggezaubert hat: »erst die Eltern, dann die Wohnung, dann die Spielsachen, dann die Kappe, dann das T-Shirt und dann war die Hose dran« und der Junge Edgar Wüstenhagen ist schweißnass aufgewacht. Jeder Traum, jeder Bericht wird von der Lehrerin Frau Kleve kommentiert. Zu Beginn weiß sie gar nicht, was sie sagen soll. »Sie ist sprachlos.« […] »Sie ist immer noch sprachlos.« […] »und holt tief Luft.« Dann beginnt sie langsam Interesse an den Erzählungen der Kinder zu gewinnen und »pfeift leise durch die Zähne.« Frau Kleve steigt ein in die Geschichten ihrer Kinder und fühlt sich ein. Als Sandra Olbrich erzählt, dass ihre Fee unheimlich stark gewesen sei und sie und einen Kegel gegeneinander abgewogen hätte und dann zu ihr ungerechter Weise gesagt hätte, dass sie zu leicht sei, kommentiert Frau Kleve diesen Traum mitfühlend mit »Du Arme!«. Erschrocken ist sie als Alfred Rehbach erzählt, dass er plötzlich zwei Köpfe hatte. »Den wie sonst und noch einen aus Knochen.« Dass Alfred von seiner Fee mit einem Totenschädel versehen wurde, ist für Frau Kleve grauenhaft.
Auf den Bildern Heidelbachs sehen wir jeweils eine Traum-Feenfigur und das jeweilige Kind, verwunschen gegenübergestellt wie in eine Theater- oder Zirkusszene in Miniaturformat, reduziert auf Figur, Verkleidung und Accessoire. Wir sehen uns kunstvoll ausgestalteten Märchenfiguren gegenüber, die in ihrem Detailreichtum den erzählten Traum ergänzen aber immer auch zusätzliche absurde und groteske Beigaben und Varianten ins Spiel bringen. Mal ist es ein besonderer Haarschmuck oder eine Kopfbedeckung, mal ein Accessoire, wie eine Handtasche, Gürtel oder eine Haarnadel oder die Körperhaltung mit mimisch-gestischem Ausdruck, die über die Alpträume der Kinder schmunzeln lassen und diese in die Nähe der Alltagswirklichkeit der Kinder führen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass ein Junge, Gerhard Sträter, schließlich erzählt, dass er von der Lehrerin geträumt habe, »aber gar nicht böse […]«. Bleibt zu fragen, wer die Lehrerin in Wirklichkeit ist: eine gute oder böse Fee?

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Bilderbücher:
Grimm, J. uns W./Janssen, S. (Ill.): Hänsel und Gretel. Hinstorff Verlag GmbH, Rostock 2007
Presch, U.: Rotkäppchens List. Kinderbuchverlag Wolff, Bad Soden 2005
Heidelbach; N.: Die dreizehnte Fee. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2000