Zur Kreativität von Kindern im Zeitgenössischen Bilderbuch
Text: Kirsten Winderlich
Dass Kinder kreativ sind, und zwar von Anfang an¹, ist theoretisch unumstritten. Problematisch wird es, wenn Kinder praktisch kreativ werden. Wird doch die Welt der Erwachsenen und das Bild der Erwachsenen durch Kinder und die ihnen eigene Fähigkeit und Lust, Neues hervorzubringen, Neues zu entdecken und zu erproben, oft in Frage gestellt.
Das Zeitgenössische Bilderbuch eröffnet einen differenzierten Blick auf die Kindern innewohnende Kreativität und zeigt dabei Missverständnisse und Grenzen auf, auf die wir in der Begegnung mit der Kreativität von Kindern immer wieder stoßen. Im folgenden Beitrag möchte ich drei Bilderbücher vorstellen, die auf ganz unterschiedliche Weise von der Kindern eigenen und besonderen Kreativität erzählen. Dabei möchte ich auf drei »erwachsene« Missverständnisse im Hinblick auf die Kreativität von Kindern zu sprechen kommen, und zwar erstens auf das Missverständnis, bei der Kreativität von Kindern handle es sich ausschließlich um das Erschaffen schöner Bilder, zweitens auf das Missverständnis, die kreativen Akte von Kindern interpretieren zu können, und drittens auf das Missverständnis, Kreativität von Kindern sei ein von der Alltagswelt abgekoppeltes Geschehen in einer Art Parallelwelt.
Kreativität von Kindern als Transformationsprozess ästhetischer Erfahrung
Schlagen wir das Bilderbuch »Bertas Boote« von Wiebke Oeser, auf sehen wir ein Mädchen beim Basteln. Der wilde Strich der Illustrationen erinnert an ein nahezu verloren gegangenes Charakteristikum des Bastelns, das »wilde Denken.
Berta bastelt. Sie baut Boote, sieben Segelboote. Kein Segelboot sieht aus wie das andere. Aus Bertas Perspektive ist das gefährlichste der Boote ein Piratenboot. Sie bringt die Boote zum Strand und lässt sie segeln. Es ist kaum Seegang. Die Boote dümpeln vor sich hin. Berta beginnt, sich zu langweilen. Plötzlich kommt ein großer Fisch und verschluckt alle Boote —auch ihr Piratenboot.
Die Autorin bietet für die Geschichte drei Enden an, die jeweils mit einem monochromen Hintergrund eingeführt werden: gelb, rot, blau. Die Geschichte könnte demnach folgendermaßen weitergehen: Berta geht nach Hause. Sie ist traurig. Sie hat das Gefühl, dass der ganze Tag sinnlos ist. Sie kramt im leeren Kühlschrank, isst Dosenfisch. Dann hockt sie sich vor den Computer und schläft nach über 20 Computerspielen ermattet ein.
Der Nachmittag könnte aber auch anders verlaufen: Berta versackt nicht im Computerspiel, sondern rafft sich auf und beschließt, den Fisch zu fangen. Es gelingt ihr. Der Fisch spuckt alles aus — alles, außer ihrem Piratenboot. Einen Moment ist Berta enttäuscht. Doch dann macht es ihr nichts mehr aus.
Hier zeigt sich ein kreatives Moment in Bertas Tun. Berta entdeckt zwischen all den Dingen, die der Fisch ausgeworfen hat, einen Korkenzieher und nimmt ihn mit nach Hause.
Der Nachmittag könnte auch so verlaufen sein: Nachdem Berta dem Fisch und damit auch ihrem Piratenboot lange sprachlos nachgeschaut hat, geht sie nach Hause und zeichnet das Geschehene auf. Sie zeichnet jedes Boot, den Bauch des Fischs und alle Bohrinseln vor der Küste. Dann rollt sie die Papiere zusammen, steckt sie in eine Flasche und verschließt diese mit einem Korken. Sie geht zurück zum Strand und wirft die Flasche ins Meer.
Auf der letzten Seite können wir sehen, was aus der Flasche geworden sein könnte. Die Flaschenpost ist nun Teil eines Hubschraubers.
Kreativität von Kindern beruht auf eigenem Erleben und Handeln auf der körperlich-sinnlichen und szenisch-situativen Ebene, auf ästhetischen Erfahrungen. Das Subjekt, das Kind, ändert in diesen Prozessen seine Sicht auf die Dinge, die andere und neue Handlungen nach sich ziehen. Dabei sind inneres Erleben, Emotionen und Imaginationen maßgeblich beteiligt, die erst in Verknüpfung und Wechselwirkung miteinander zu einem individuellen Ausdruck führen. Gert Seile versteht dabei ästhetische Erfahrung neben der Verarbeitung und Reflexion stattgefundener Erlebnisse als eine Art »Probe-Erleben ersehnter und erträumter Erfahrung«³ und führt weiter aus, dass ästhetische Erfahrungen nicht bloß in ein Erinnern und Sichern führen, sondern auch in ein Vorstellen und Wünschen, in die Imagination.‘
Vor diesem Hintergrund und im Hinblick auf die Geschichten der Berta wird deutlich, dass als Kreativität unter Berücksichtigung ästhetischer Erfahrungen nicht ausschließlich Ergebnisse oder Produkte ästhetischer Handlungen zu verstehen sind, nicht ausschließlich die Boote, die Berta gebaut hat, nicht ausschließlich ihre Zeichnungen, sondern vielmehr der Transformationsprozess der Erfahrungen, die Berta durch ihre Handlungen selbst vollzieht und die sich im Prozess verdichten.
Das innere Erleben, die Gefühle, die Berta beim Basteln begleiten, transportiert Wiebke Oeser durch Bilder im Bild. So zeigt zum Beispiel ein Bild in Bertas Zimmer in der Phase der Enttäuschung über das verschluckte Boot ein untergehendes Schiff. Ein Bild am Kühlschrank, das an den »Schrei« (1892-1895) des norwegischen Malers Edvard Munch erinnert, macht Bertas Verzweiflung deutlich. Eine Kreidestudie zum Fisch auf einer Tafel zeigt Bertas Mühe, das Geschehene forschend zu begreifen. Als sich Berta wütend aufmacht, den Fisch zu fangen, zeigt das Bild des untergegangenen Schiffes eine Unwetterstimmung in rotem Abendlicht.
Kreativität und ästhetische Erfahrungen von Kindern hinterlassen Spuren, die vermittelt werden wollen. Die Flaschenpost der Berta ist auch in diesem Sinne zu verstehen. Erstens ist die Flaschenpost als Materialisierung ihrer Er-fahrung zu sehen. Zweitens ist sie auch als Mitteilung und Aufforderung an einen noch unbekannten Anderen zu verstehen, die Geschichte weiterzuerzählen.
Eigensinn als Wert kreativer Akte von Kindern
Auch Tom aus der Geschichte »Als alle früher nach Hause kommen« von Isabel Pin liebt das bildnerische Gestalten. So mag er den Mittwoch besonders, weil die Schüler an diesem Tag in der Schule malen. Da an diesem Mittwoch alle brav waren, darf jeder malen, was ihm gefällt.
Die Betrachter des Bilderbuchs werden als Zeugen des Geschehens in entsprechende Perspektiven versetzt. Das Bild versetzt sie hinter die Tür und in die Situation, dem Geschehen aus der Distanz und unbeobachtet zu folgen. Auf der nächsten Seite erlaubt die Illustration einen kartografischen Blick über den Klassenraum. Der Raum wirkt groß und leer.
Einen Großteil der Illustrationen füllen leere Böden und Wände. Sie werden zu Bildträgern, zur Projektionsfläche des Geschehens. Im Klassenraum hängen die Bilder der Kinder. Es sind Bilder, wie wir sie in vielen Schulen und Kindertagesstätten vorfinden: Bäume, Häuser, Masken und Klecks-bilder auf formatiertem Papier. Wir können beobachten, wie Angela die Bilder der Kinder betrachtet und kommentiert. Allerdings deutet sie die Bilder der Kinder lediglich aus der Erwachsenenperspektive. So hält sie zum Beispiel Pauls gemalten neuen Basketballschuh für einen Bus. Als Angela Toms Bild betrachtet, ist sie erschrocken, geht mit ihm auf den Flur und holt die Leiterin. Tom ist irritiert, denn »normalerweise wird sie gerufen, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Wenn ein Kind sich auf dem Klo eingesperrt hat und nicht wieder herauskommt, oder wenn wir zum Beispiel eine Fensterscheibe eingeschlagen haben.« Angela flüstert der Leiterin etwas ins Ohr, woraufhin sich die Leiterin Toms Bild ansieht. Sie lächelt Tom an und sagt, dass sie seine Mutter anrufen wird. Auch Toms Mutter reagiert besorgt auf Toms Bild, »wie wenn Papa abends sehr spät nach Hause kommt«. Tom soll sich zu Hause ausruhen. Seite für Seite werden Familienmitglieder ins Haus geholt. Sogar der Hausarzt kommt und betrachtet Toms Bild. Tom wundert sich über das Verhalten der Erwachsenen. Er lässt sich allerdings von der gedrückten und besorgten Stimmung der Erwachsenen nicht anstecken, sondern nutzt die seltene Anwesenheit der Familie am Nachmittag und bittet seine Oma, mit ihm einen Kuchen zu backen. Dann kommt noch jemand, Toms Freundin Lilly, die nebenan wohnt und bemerkt hat, dass wegen Tom so viele Leute früher nach Hause kommen. Sie denkt, dass Tom Geburtstag habe. Toms Mutter nutzt Lillys Besuch, um auch sie über Toms Bild zu befragen. Lilly ist begeistert und benennt als erste, was sie auf dem Bild konkret sieht: »Es ist echt super, dein schwarzes Quadrat, Tom!«
Zum ersten Mal bekommen wir Toms Bild zu Gesicht. Es erinnert an das kunsthistorisch bedeutsame »Schwarze Quadrat« von Kasimir Malewitsch (1915), einem wichtigen Vertreter der russischen abstrakten Kunst. Durch die Anspielung auf die moderne Kunst wird die Unwissenheit der Erwachsenen gegenüber Toms Bild noch einmal unterstrichen. Es wird nicht nur deutlich, dass die Erwachsenen keinen Zugang zu Toms Bild haben oder sich den Zugang durch Interpretation lediglich aus der Erwachsenenperspektive verbauen.
Die Erwachsenen werden auch in ihrer Unwissenheit moderner Kunst gegenüber gezeigt. Sie könnten sich fragen: Was ist an Toms bildnerischen Handlungen das Besondere? Was ist das Kreative? Kreativ ist erstens, dass Tom ein vollkommen anderes Bild als gewohnt schafft und es sich in seinem Eigensinn nicht in Frage stellen lässt. Kreativ ist zweitens, dass Tom trotz der ernsten und besorgten Stimmung der Familienmitglieder eine seiner eigenen Stimmung und Befindlichkeit entsprechende Atmosphäre inszeniert. Schließlich sind ja heute alle seinetwegen früher nach Hause gekommen! Tom nutzt diesen Sachverhalt für sich und bäckt einen Kuchen.
Durch die Begegnung mit Toms Bild erhält die besondere Illustrationsweise Isabel Pins eine neue Bedeutung für die Geschichte. Toms Bild wird von den flächig monochromen Illustrationen getragen und von der ersten Seite an vermittelt. Zarte Kinderzeichnungen an den flächig gemalten Wänden, Möbeln und Böden weisen zudem leise auf den eigenen Sinn kreativer bildnerischer Prozesse von Kindern hin — die eigensinnig-schöpferische Aneignung von Welt.
Kreativität von Kindern als Intervention im Alltag
Für die Aneignung von Welt, ein besonderer Motor kreativer Prozesse von Kindern, braucht man Ideen. Ideen sammeln Kinder im Spiel und in der Fantasie. So auch Albrecht Fafner, dessen Geschichte Nikolaus Heidelbach in Bild und Text erzählt.
Albrecht ist allein zu Hause. Er trägt die Badekappe seiner Mutter und seinen Lieblingsregenmantel. Er sitzt auf einer Schaukel und stützt seinen Kopf in seine Hände. Es ist nicht eindeutig, ob sich Albrecht Fafner langweilt oder ob er träumt. Der Text erzählt, dass Albrecht sacht schaukelte und hin und her überlegte, was er alles machen könnte.
Der Übergang zur folgenden Seite macht deutlich, dass Langeweile produktiv schöpferisch sein kann. Von sachtem Schaukeln kann nicht mehr die Rede sein. Albrecht Fafner katapultiert sich beim Schaukeln fast aus dem Bild. Er scheint von einer Hand angestoßen zu werden, von der nicht eindeutig gesagt werden kann, ob sie zu einem Menschen oder einem Affen gehört. In kursiver Schrift und im Konjunktiv erzählt Albrecht Fafner, dass er sich in einem Land mit Wüsten und Urwäldern, mit steilen Bergen und breiten Flüssen, mit Krokodilen, Löwen, Giraffen, Nilpferden, Mäusen, Schlangen und Affen befände. »Das Land wäre Afrika.« Das Schaukeln verändert Albrechts Wahrnehmung und regt seine Fantasie an. Albrecht schaukelte sich nämlich so hoch, »dass er den Staub auf dem Türrahmen sehen konnte«.
Albrecht taucht weiter in seine Fantasiewelt ein. »Die Treppen müsste ich hochfliegen können. Ich müsste nur alle zehn Zehen fest einkrallen, dann könnte ich losfliegen. Außerdem müsste ich sowieso fliegen, weil auf jedem Treppenabsatz Falltüren wären.« Auf dem Bild sind nur noch seine Füße zu sehen. Albrecht fliegt über den Bildrand hinaus und landet nacheinander in jedem Zimmer. »Es waren genug Zimmer zum Spielen da.«
Die Bilder zeigen, wie sich die Zimmer in Albrechts Fantasie verwandeln. Sie werden von Tieren und Menschen bevölkert, die Albrecht entweder beschützt oder von denen er bedroht wird. Immer neue Szenarien entstehen, die Albrecht mit Hilfe seiner Fantasie löst. Bis es an der Tür klingelt und Albrecht nicht mehr allein in der Wohnung ist.
Sofia kommt. Sie bringt aus der Wäscherei ein großes Paket. Ihr Kopf ist hinter dem Paket nicht zu sehen. Das Paket ist so groß, dass es eine Projektionsfläche für Albrechts Fantasiewelt zu bieten scheint. Er lädt Sofia in die Wohnung ein. Beide beginnen, miteinander zu spielen.
Eine andere und neue Facette von Kreativität wird an dieser Stelle sichtbar. War Albrecht zuvor in seiner Fantasie kreativ, ist er es jetzt gemeinsam mit Sofia körperlich und szenisch konkret. Sie verwandeln das ganze Haus in ein Schlaraffenland. Sie nehmen sich die Lebensmittel aus dem Kühlschrank, Eier, Milch, Butter, Margarine, Sahne, Joghurt, Käse, Wurst, Schinken, Sülze, Senf, Ketchup, Pudding, Quark, Gurken, Gehacktes, Gemüse, Saft und vieles mehr und arrangieren diese Lebensmittel zu Installationen und Stillleben im Haus. Als sie die Nahrungsmittel aus dem Kühlschrank verbraucht haben, greifen sie auch in der Speisekammer und bei den Vorräten im Keller zu.
Die Bilder von Heidelbach zeigen Lebensmittel kunstvoll zu Landschaften aufgetürmt, zu raumgreifenden Szenen arrangiert und zu fremd-vertrauten Bildern komponiert, die es einem Erwachsenen schwer machen, vorwurfsvoll zu tadeln: »Mit Essen spielt man nicht!« Aber gerade darum geht es in dieser Geschichte.
Albrecht Fafner ist allein zu Hause. Dank seiner Fantasie geht er kreativ mit seiner einsamen Situation um, indem er eine Geschichte erfindet, in der er der Held ist und der Andere auf seine Hilfe angewiesen ist. Zudem gewinnt Albrecht mit seiner Geschichte eine Spielkameradin, mit der er im gemeinsamen Spiel die eigene Umwelt in eine Fantasiewelt transformiert, in ein »Schlaraffenland«.
Die drei Bilderbücher machen auf ihre je eigene Weise deutlich, was Kreativität von Kindern bedeutet: Kreativität von Kindern ist nicht an einen einzigen Gegenstand oder an ein einziges Produkt gebunden. Vielmehr ist Kreativität von Kindern an schöpferische Prozesse gebunden, die von ständigen Transformationen geprägt sind. Bilder, die in kreativen Prozessen entstehen, sind nicht ausschließlich aus der Erwachsenenperspektive zu interpretieren. Sind Kinder kreativ, machen sie vor nichts Halt, nicht vor der Kunst und auch nicht vor dem Essen.
Kreative Prozesse von Kindern können Tabus der Erwachsenenwelt berühren. Aber gerade in diesem Hinblick können sie Welt erweitern — auch die der Erwachsenen!
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Bilderbücher:
Heidelbach, N.: Albrecht Fafner fast allein. Beltz & Gelberg, Weinheim 1992
Oeser, W.: Bertas Boote. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1997
Pin, I.: Als alle früher nach Hause kamen. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2006
Literatur:
Lévi-Strauss, C.: Das wilde Denken. Suhrkamp, Frankfurt./ M. 1977
Schäfer, G. E.: Kinder sind von Anfang an notwendig kreativ. In: Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung e.V. (Hrsg.): Kinder brauchen Spiel und Kunst. Remscheid 2003, S. 37-51
Selle, G.: Gebrauch der Sinne. Rowohlt, Reinbek 1988
1 Vgl. Schäfer 2003
2 Lévi-Strauss 1977
3 Selle 1988. 33
4 Vgl. Selle 1988, 33