Vom Reichtum der Unterschiede
Text: Kirsten Winderlich
Lange Zeit wurde Behinderung aus defektorientierter Perspektive begriffen und floss so in das allgemeine Menschenbild ein. Im Mittelpunkt stand das, was den Menschen beeinträchtigt, und weniger der Mensch als Individuum mit seinen Schwächen und vor allem mit seinen Stärken. In den 198oer Jahren fand in Deutschland bezüglich der Sicht auf Behinderung ein Paradigmenwechsel statt. Zunehmend entwickelte sich eine gesellschaftliche Diskussion um die Rechte von Menschen mit Behinderungen und um ihre Möglichkeiten, an der Gesellschaft aktiv zu partizipieren. Dies wurde durch die 1980 von der Bundesregierung ausgerufene Dekade der Behinderten unterstützt. Dabei ging es immer wieder um die Frage, ob die Hilfen für Menschen mit Behinderungen insbesondere in Form von Sondereinrichtungen Abhängigkeiten verfestigen und auf diese Weise zu deren Isolation beitragen. Seit diese Zeit verfolgen integrationspädagogische Bewegungen nicht nur das Ziel, Kinder mit Behinderungen an Leben und Gesellschaft teilhaben zu lassen, sondern auch Kindern ohne Beeinträchtigung und Behinderung zu ermöglichen, Menschen, die anders wahrnehmen und lernen, zu begegnen und in dieser Begegnung mit dem anderen Menschen zu wachsen.
Bilderbücher, die sich mit dem Thema »Behinderung« auseinander setzen, können Kindern eine Vielfalt an Impulsen geben, sich Kindern mit Behinderungen anzunähern, sich einen verstehenden Zugang zu ihnen zu eröffnen und entsprechendes Wissen zu erwerben. Die Bilderbücher, die im Folgenden vorgestellt werden, ermöglichen aber auch Kindern mit Behinderungen, sich in ihrer eigenen lebensgeschichtlichen Besonderheit selbst zu entdecken und zu erleben. Durch die spezifische Erzählweise zeitgenössischer Bilderbücher, deren dichte Verknüpfung von Bild und Text, werden Kindern mit und ohne Behinderung zahlreiche Anlässe gegeben die jeweilige Individualität des anderen Menschen zuzulassen und entsprechend wahrzunehmen. Auf diese Weise werden Kinder angeregt die eigenen Vorurteile zu hinterfragen.
Vom Kennenlernen
Vorurteile behinderten Menschen gegenüber sind auch der Ausgangspunkt der Geschichte »Sei nett zu Eddie«, die Virginia Fleming erzählt und Floyd Cooper illustriert.
Christina und Robert lehnen den Nachbarjungen Eddie ab, der ein Down-Syndrom hat. Robert zeigt seine Ablehnung offen, indem er Eddie immer wieder harsch auffordert, nach Hause zu gehen. Christina hätte sich Eddies Anwesenheit eher durch das Angebot einer Süßigkeit entledigt, denn sie wurde von ihrer Mutter gebeten, »nett« zu Eddie zu sein, weil Gott ihn so gemacht habe, wie er sei. Diese von Erwachsenen aufgesetzte und mit der Hilfsautorität »Gott« verstärkte Verhaltensregel scheint bei Christina und Robert zu noch mehr Unsicherheit und Unwillen Eddie gegenüber zu führen. Doch Eddie lässt sich nicht abschütteln. Er folgt Christina und Robert durch den Wald trotz der Demütigung, er würde ihnen hinterherlaufen wie ein Hund. Christina und Robert sind auf der Suche nach Froschlaich. Noch sind sie nicht fündig geworden. Aber Christina entdeckt im Waldsee einen Salamander.
An dieser Stelle der Geschichte wendet sich das Blatt, und Eddie wird als Mensch mit besonderen Fähigkeiten wahrgenommen. Während Robert und Christina den Salamander vom Ufer aus beobachten, steigt Eddie ins Wasser, fängt den Salamander mit seinen Händen und lässt ihn vorsichtig in Christinas Hände schlüpfen. Eddie hat nicht nur keine Angst vor Tieren und kann mit ihnen umgehen, sondern er weiß auch, wo man Froschlaich und Seerosen finden kann. So gewinnt er Christinas Interesse.
Dass Eddie kein »Blödmann« ist, zeigt er auch in dem Moment, als Christina den Froschlaich in einem Glas mit nach Hause nehmen will. Er argumentiert, dass die Froschkinder ohne ihre Mutter sterben werden und die Mutter dann traurig ist. Über das gemeinsame Naturerlebnis und den Austausch von Erfahrung und Wissen kommen Christina und Eddie einander näher. Sie liegen bäuchlings am Uferrand, um eine Seerose zu pflücken, und betrachten ihre im Wasser gespiegelten Gesichter. Die Spiegelbilder sind verzerrt, und Eddie kommentiert dies folgendermaßen: »Du siehst komisch aus, Christina.« Christina sind ihr verzerrtes Spiegelbild und Eddies Kommentar unangenehm. Deshalb versucht sie, ihr Gesicht mit den Händen zu verbergen. Eddie spürt Christinas Unbehagen, legt seine rechte Hand aufs Herz, grinst und sagt pathetisch: »Ist schon in Ordnung, Christina… Ich mag dich trotzdem… Was hier drin ist, zählt.«
Die Geschichte zeigt, wie leicht es ist, Zugänge zu Menschen mit Behinderungen und ihren Diskriminierungen zu finden, wenn man sich selbst einmal »behindert«, ausgestellt und beäugt gefühlt hat. Sie zeigt zudem die Möglichkeit der Annäherung an Menschen mit Behinderung im gemeinsamen Projekt, insbesondere im naturnahen Projekt. Die impressionistische Illus-trationsweise regt die Betrachter an, während des Eintauchens in das Geschehen genau hinzusehen und sich von der Malerei und der Atmosphäre, die sie schafft, emotional berühren zu lassen.
Eine andere Sprache verstehen
Das Bilderbuch »Wir sprechen mit den Händen« von Franz-Joseph Huainigg und Verena Ballhaus versucht, einen Zugang zu gehörlosen Menschen auf der Ebene der Sprache, hier der Gebärdensprache, zu vermitteln.
Die Gebärdensprache wird den Betrachtern durch die Geschichte des Mädchens Lisa näher gebracht. Lisa sitzt auf einer Spielplatz-Bank und wartet darauf, dass sich jemand zu ihr setzt. Aber niemand beachtet sie. Als sie auf die Rufe der anderen Kinder, den Ball zurückzuschießen, aufgrund ihrer Gehörlosigkeit nicht reagiert, fangen die Kinder an, sie zu beschimpfen. Doch zum Glück gibt es einen Jungen in der Gruppe, der die Gebärdensprache beherrscht und mit ihr auf diese Weise spricht. Die anderen Kinder reagieren mit Überraschung und werden neugierig. Seite für Seite werden sie —und mit ihnen die Betrachter — in die ihnen unbekannte Gebärdensprache eingeführt.
Wir betrachten die gemalten und gezeichneten comichaften Bilder von Verena Ballhaus, in die die Gebärden als Scherenschnitte und als Images mit Bewegungsspuren eingebaut werden. Wir üben uns immer wieder im Lesen einer Sprache, die für uns neu und fremd ist, und das auf mehreren Ebenen: in konkreten Situationen, in den individuellen Geschichten von Lisa und Thomas, in Erfahrungsberichten und auf der abstrakten Ebene von Zeichen oder in Zwischenbildern, in denen wir durch Bewegungslinien angeregt werden, die Gebärden nachzuahmen. Wie nebenbei erfahren wir die Familiengeschichten von Lisa und Thomas und deren jeweiligen Umgang mit der Behinderung.
Darüber hinaus entwickelt das Bilderbuch eine eigene Art in Bild und Text, die Gebärdensprache zu erforschen und zu durchdringen. Es integriert Beobachtungen und Kommentare der Kindergruppe, die die Erfahrungen mit der neuen Sprache reflektieren. Was zu Beginn als Zauberei oder Geheimsprache erschien, wird rational erklärbar. So fordert das Bilderbuch heraus, Seh-und Lesegewohnheiten in Bezug auf Behinderung zu durchbrechen. Es präsentiert keine Erzählung, sondern eher ein Ineinanderwirken von Parallelgeschichten und Informationen unterschiedlicher Abstraktionsgrade, die anregen, eine neue Sprache wahrzunehmen und zu üben.
Eine Frage der Perspektive
Wurde in der vorangegangenen Geschichte der Blick ganz bewusst auf ein spezifisches Charakteristikum einer Behinderung gelenkt, auf die Sprache von Gehörlosen, wird das Besondere oder das Handicap in der folgenden Geschichte bewusst ausgeblendet.
In »Susi lacht«, erzählt von Jeanne Willis und illustriert von Tony Ross, erfahren wir von einem Mädchen, das lacht, singt, gern mit dem Opa tanzt, gern in der Wanne plantscht, reitet, mit anderen Kindern in Seifenkisten den Abhang hinuntersaust, auf Schaukeln schwingt, malt und Papierflugzeuge fliegen lässt. Wir lernen ein Mädchen kennen, das Dinge tut, die alle Kinder tun, wenn es ihnen gut geht. Wir sehen in den sequentiell angeordneten Buntstiftzeichnungen wie in einem Fotoalbum, dass Susi meist lieb, aber manchmal auch frech ist, dass sie die Katze neckt und sauer ist, wenn sie sich dabei einen Kratzer einfängt. Wir erfahren, dass Susi sich vor grusligen Geräuschen fürchtet und dass sie, wenn sie mal falsch gerechnet hat, erst traurig, aber schnell wieder froh ist. Wir lernen Susi als ein Mädchen kennen, das vielen anderen Kindern ähnlich ist. Und auf der letzten Seite sind wir überrascht, wenn wir Susi in einem Rollstuhl entdecken. Hätten wir Susi all diese Fähigkeiten — sowohl auf der praktischen als auch auf der sozialemotionalen Ebene — zugetraut, wenn wir das schon auf der ersten Seite erfahren hätten?
Von Schwächen und Stärken
Die Behinderung des Hasen Fritz ist sofort und auf den ersten Blick zu erkennen. Fritz ist gehbehindert und trägt aus diesem Grund mit Rollen und Bremsen ausgestattete Stiefel. Mit Stockschüben bewegt er sich vorwärts. Das Handicap des Hasen ist so offensichtlich, dass er von allen »Rollstiefelchen« genannt wird. Doch er ist deswegen nicht ängstlich und lebt auch nicht zurückgezogen. Im Gegenteil: Rollstiefelchen ist selbstbewusst, gewitzt und neugierig. Er hat vor nichts Angst, nicht einmal vor dem großen Bären. Dieser wirft die Rollstiefelchen mit dem Kommentar, Stiefel seien nichts für Hasen, in den Abgrund.
Die wie eine Fabel erzählte Geschichte von Grgoire Solotareff regt durch ihre Bilder — weite und leere Farbflächen mit stürzenden, vertikalen Landschaftsstrichen — an, über die plötzlich hereinbrechende Dramatik nachzudenken. Doch nicht nur die Betrachter des Bilderbuchs machen sich Gedanken über die brutale Tat. Der Bär schleicht sich mit schlechtem Gewissen zum Hasen und schleppt ihn unter dem Arm in den Wald zurück. »Eigentlich ist so ein Hase auf Rollstiefeln doch etwas Besonderes, überlegte er.« Trotzdem lässt er den Hasen irgendwann allein. Zum Glück wohnt der Dachs nicht weit und leiht dem Hasen seinen Rollstuhl.
Das Bild, das den Hasen mit seinem Freund, dem Dachs, in dessen Wohnung vor einem Bücherregal zeigt, ist das einzige Bild, das den Hasen in einem statisch ausgeglichenen Raum zeigt. Es unterstützt den Eindruck, dass der Dachs sich — vielleicht des eigenen Handicaps wegen — dem Hasen nahe fühlt und damit auch eine Atmosphäre der Geborgenheit ausstrahlen kann. Darüber hinaus liefert die Bücherwelt des Dachses eine Gegenwelt zur Dummheit und Bildungsferne des Bären.
Doch der Rollstuhl kann den Hasen nicht retten. Im Gegenteil: Er führt ihn in die Arme des Bären zurück. Als der Hase mit dem Rollstuhl in einen Abgrund stürzt, wird er vom Bären aufgefangen. Aus dem Peiniger ist ein Lebensretter geworden — wenn auch nur zufällig. Doch das Rettungserlebnis wird zum Schlüsselmoment im Leben des Bären. Nun ist er in der Lage, Freundschaft zu erfahren und zu geben. Wer weiß? Vielleicht kann er auch irgendwann Empathie entwickeln, kann sich einfühlen in das individuelle So-Sein und innere Erleben seines neuen Freundes.
Und doch bin ich glücklich, dass es dich gibt
Um Empathie, Nähe und das Gefühl der Verbundenheit geht es auch im Bilderbuch »Ein Geburtstag« von Doris Meißner-Johannknecht und Melanie Kemler. Beim Aufblättern blicken wir in ein unaufgeräumtes Kinderzimmer. Die Spielsachen sind über den Boden verstreut. Das Bett ist nicht gemacht. Der Staubsauger deutet auf bevorstehendes Aufräumen. Und tatsächlich, der Ich-Erzähler berichtet vom morgigen Geburtstag, zu dem er seinen Zwillingsbruder erwartet. In einer Art Zwiegespräch mit seinem Bruder bereitet er sich nicht nur emotional auf den kommenden Tag vor, sondern lässt auch uns an der Beziehung zu seinem Bruder und an seiner Gefühlswelt als nicht-behinderter Zwilling teilhaben.
Schnell wird klar, dass der Geburtstag den Jungen nicht nur in freudige Erwartung auf Geschenke und ein Fest versetzt, sondern ihn in tieferer Weise berührt. Der Zwillingsbruder des Erzählers lebt nicht im elterlichen Zuhause. Die Brüder wachsen getrennt voneinander auf. Der Grund: die schwere Behinderung des einen Kindes.
In der Vorfreude auf den gemeinsamen Geburtstag bastelt der Erzähler nicht etwa an einem Geschenk für den Bruder, sondern an der Ordnung des Raumes und damit auch an der Ordnung seiner Gefühlswelt in Bezug auf den behinderten Bruder. Die Handlungen des Räumens und Ordnens sind mit Gefühlen und Erinnerungen verknüpft, an denen wir teilhaben. So legt der Erzähler eine Matratze neben das eigene Bett und darauf den Lieblingsschlafanzug des Bruders. Dann steckt er dessen Lieblingskassette in den Rekorder. Immer im Zwiegespräch mit dem Bruder, antizipiert er dessen Reaktionen und Verhaltensweisen: »Ich spiele mit dir deine Lieblingsgeschichte von dem Mann, der die Treppe heraufkommt. Und du lachst noch immer an der gleichen Stelle.«
Die Ordnung des Zimmers wird an dieser Stelle im Bild surreal aufgebrochen. Der Boden öffnet sich, Treppen treten zutage, auf denen Stufe für Stufe Fantasiemenschen aus Händen entstehen und die Treppen hinaufhüpfen. Der Erzähler erinnert an die gemeinsame Kindheit mit dem Bruder. Diese Erinnerungen sind zum Teil mit schmerzlichen Gefühlen verbunden, mit Trauer und mit Schuldgefühlen: »Und morgen kommst du. Es ist unser Geburtstag… Und wie immer puste ich die Kerzen aus, weil du das nicht kannst. Du siehst unsere Torte kaum, und unser Geburtstagslied, das Mama uns jedes Jahr singt, kannst du nur schwer hören. Du läufst nicht zum Geburtstagstisch, und es gibt auch kein Fahrrad für dich. Du liegst noch immer wie ein Baby auf der Matratze. Das wird sich nicht ändern, so lange du lebst. Warum gerade du und nicht ich? Das frage ich mich oft und nicht nur an unserem Geburtstag.«
Am Ende der Vorbereitungen legt der Erzähler ein weiches Schaffell als Geschenk auf die Matratze, für das er sein Taschengeld gespart hat.
In der Antizipation des kommenden Geburtstages und des besonderen Wahrnehmens, Fühlens und Erlebens des behinderten Bruders verwandelt sich das Zimmer in surrealer Weise in eine hügelige Wiesenlandschaft, auf der Schafe weiden. Als Pendant dazu schmücken auf der nächsten Seite die Träume von Geburtstagsgeschenken des nichtbehinderten Erzählers das Zimmer.
Am Geburtstag liegen die Zwillingsbrüder gemeinsam auf der Matratze vor dem Bett. Die schwere Behinderung des einen Bruders ist lediglich an minimalen Körperstellungen erahnbar.
Mit diesem Bild der seltenen rituellen Zweisamkeit ist die Geschichte zu Ende.
Das erste und letzte Bild rahmen die Geschichte der Zwillinge ein und verweisen auf die unterschiedlich verlaufende Entwicklung und die Lebenswege der Brüder. Der anfangs als Indianer verkleidete Junge ist auf der letzten Seite ein Jugendlicher oder Erwachsener im Anzug, der die Arme ausbreitet, als will er ein Kind auffangen. Und der Teddybär auf der ersten Seite ist auch auf der letzten Seite zu sehen. Aber er hat Flügel erhalten. Man muss sie nur wahrnehmen. Für dieses Wahrnehmen gibt uns das Bilderbuch ein wunderbares Instrument in die Hand — den Dialog.
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Bilderbücher:
Fleming, V./Cooper, F.: Sei nett zu Eddie. Lappan Verlag, Oldenburg 2006
Huainigg, F.-J./Ballhaus, V.: Wir sprechen mit den Händen. Annette Betz Verlag, Wien/München 2005
Willis, J./Ross, T.: Susi lacht. Lappan Verlag, Oldenburg 2000
Solotareff, G.: Rollstiefelchen. Moritz Verlag, Frankfurt/M. 2000
Meißner-Johannknecht, D./Kemmler, M.: Ein Geburtstag. Bajazzo Verlag, Zürich 2007