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Gender-Perspektiven

Text: Kirsten Winderlich

In Zeitgenössischen Bilderbüchern, die sich mit der Lebenswelt von Kindern, von Jungen und Mädchen auseinandersetzen, scheint die Integration von Gender-Perspektiven selbstverständlich. Im Hinblick darauf können wir in den Bilderbüchern vielfältige Umgangsweisen ausmachen. Doch sensibilisieren sie auch für die vielschichtige und differenzierte Wahrnehmung von Jungen und Mädchen, die sich dem Subjektiven in der Aneignung von Geschlecht verpflichtet?

Sind Jungen mackerhaft und Mädchen sanft?
In ihrem Bilderbuch »Echte Kerle« versucht Manuela Olten, traditionelle geschlechtsspezifische Rollenbilder in Frage zu stellen, indem sie das Rollenmuster des mackerhaften Jungen persifliert. Die Malerei zeigt zwei Jungenfiguren, an die Puppen Ernie und Bert erinnernd, in ihrem Doppelgitterbett wie auf einer Bühne und fokussiert dabei Gesichter und Mimik.
Die Klischeevorstellungen zu »Mädchen« werden immer wieder vor rosa oder apricotfarbenem Hintergrund wie ein Bild im Bild projiziert. Wir sehen ein Mädchen, das Kragenkleid zugeknöpft, die Zöpfe zwar abstehend, aber brav gekämmt und geflochten, das die widerspenstigen Haare seiner Puppen bürstet und sie ebenfalls mit Zopffrisuren versieht. Ein anderes Bild zeigt das Mädchen in Herzchen-Bettwäsche, die Augen angstvoll aufgerissen, die Stofftiere und Teddys fest umklammernd. Und schließlich präsentiert ein Bild ein Mädchen im Nachtzeug, das sich in die Hose macht.
Über all diese Vorstellungen und Vorurteile amüsieren sich die Jungen, lästern und schaukeln sich gegenseitig hoch. Typografie und Textgestaltung verstärken die Wirkung der Bilder und verdeutlichen die Statements der Jungen über die Mädchen. Die größer gesetzten Wörter »voll langweilig«, »Puppen« oder »Angst« in den vorurteilenden Sprüchen über Mädchen regen an, sich lauthals in die Ausdrucksweise der Jungen hineinzuversetzen, sie nachzuahmen oder das traditionelle geschlechtsspezifische Rollenbild mit seinen Vorurteilen schon beim Vorlesen zu bedienen. Die Setzung einzelner Wörter in alternierenden Zeilen und in den Farben Rot und Blau macht deutlich, wie sich die beiden Jungen in ihrem Gebaren Mädchen gegenüber langsam aufschaukeln, bis sie dem Mädchen unterstellen, es hätte Angst vor Gespenstern.
An dieser Stelle setzt die Wende ein. Das Wort »Gespenster«, ebenfalls fett und groß gesetzt, bringt die beiden ins Stottern, ins Straucheln, ins Nachsinnen: »Die gibt’s doch gar nicht?« Die Jungen werden kleinlauter, entsprechend erscheinen ihre Äußerungen im Schriftbild zunehmend kleiner. Sie verkriechen sich geradezu unter ihren Bettdecken. Dann müssen sie plötzlich auf die Toilette. Dabei bietet sich die Gelegenheit, zu dem Mädchen ins Bett zu kriechen. Es scheint den Jungen nichts mehr auszumachen, dass es ein rosafarbenes Bett ist. Die beiden halten sich an den Teddys fest, während das Mädchen friedlich in ihrer Mitte unter der Herzchen-Bettwäsche schlummert.
Obwohl die beiden Jungen sich zum Schluss der Geschichte anders als erwartet verhalten, schreibt das Bilderbuch in gewisser Weise die traditionellen Rollenmuster fort, eröffnen Bilder und Text wenig Zugänge zum inneren Erleben der Kinder. Wie geht es den Jungen mit ihrer Angst vor Gespenstern? Wie wäre es, wenn sie jemand beobachten könnte, als sie unter der Bettdecke eines Mädchens Schutz und Geborgenheit vor der Nacht suchen?
Irritierend ist, dass das Mädchen nicht als eigenständig handelndes und empfindendes Subjekt, sondern als Projektionsfläche für die Jungen gezeigt wird. Das Bilderbuch polarisiert zwischen einem Mädchen, das mit Puppen spielt, in die Hosen macht und Angst vor Gespenstern hat, und einem Mädchen, das friedlich und ausgeglichen schlafen kann. Die traditionellen Verhaltenszuschreibungen von Jungen werden zwar »aufs Korn genommen« und persifliert – doch dabei bleibt es auch.

Gewinnen Mädchen, die pfiffig, gewieft und widerständig sind?
Das Bilderbuch »Die kleine Piratin und die neue 13«, von Jacky Gleich illustriert und erzählt von Bruno Blume, streift Gender-Perspektiven ebenfalls mit den Mitteln der Persiflage. Im Gegensatz zu den »Echten Kerlen« läuft diese Bilderbuchgeschichte jedoch Gefahr, Mädchen eine neue starre Rolle aufzuzwängen.
Die Geschichte der kleinen Piratin beginnt mit einer Szene, in der sich 13 Piraten in einem Seeräuber- und Piratenspiel auflehnen, weil kein Mann sie anführt, sondern eine Frau. Die Schiffsbesatzung rottet sich zusammen, verkündet lauthals Vorurteile gegenüber der weiblichen Anführerin und beschließt eine Meuterei. Das Bild zeigt, wie die Kapitänin kopfüber ins Wasser springt oder von Bord geworfen wird und das Schiff verlässt.
Als die Meuterer Appetit auf ein Eis bekommen, sich von trivialen Trieben leiten lassen und vom Schiff steigen, wittert die Kapitänin ihre Chance, nutzt die Gunst der Stunde, erobert das Schiff zurück und besetzt es mit neuen Leuten, den neuen 13. Man könnte nun meinen, die 13 Neuen seien alle Mädchen, Frauen. Falsch! Bei genauerem Hinsehen kann man erkennen, dass die neue Besatzung bunt zusammengewürfelt ist, ähnlich wie die der Meuterer. Es wird also kein Kampf zwischen den Geschlechtern ausgetragen, sondern ein Kampf um ein Boot, an dem sich zwei Jungen-Mädchen-Gruppen beteiligen. Allerdings gewinnt die Gruppe, die von einem Mädchen, von der Piratin und Kaptänin, angeführt wird, einem Mädchen, das präsent, pfiffig und ausgeklügelt auf seine Chance wartet und sie ergreift. Die Gröler, die Lautschreier, die Angeber, die Jacky Gleich in ihren Aggressionen, in ihrer Wut auf die anderen, in ihrem Hohn und in ihrer Schadenfreude überzeichnet, haben das Nachsehen.
An dieser Stelle können wir uns bei unseren eigenen Vorurteilen Jungen und Mädchen gegenüber ertappen. Hatten wir dieses Kampfgebaren nicht ausschließlich Jungen unterstellt? Der Text, der subtil immer wieder Kommentare und Bewertungen einflicht, unterstützt unsere Vorurteile. Er verweist auf tradierte geschlechtliche Rollenmuster und wertet sie ab, allerdings auf sehr belehrende Weise. Dass die Piraten keine Frau als Anführerin wollten, kommentiert der Text mit dem Spruch: »Denn die Piraten waren alle von gestern und sahen gar nichts ein.« Was folgt aus dieser Behauptung? In der Geschichte von Bruno Blume und Jacky Gleich werden die Dussel, die eine Frau nicht als Kapitänin akzeptieren, ausgetauscht und versenkt. Ist es tatsächlich so einfach? Nein, so einfach ist es nicht. Davon zeugen Bilderbücher, die dichotomen Zuschreibungen von Zweigeschlechtlichkeit entgegenwirken, indem sie einen differenzierten Blick auf Mädchen und Jungen eröffnen und auf diese Weise Lust machen, zu beobachten und zu beschreiben, was Mädchen und Jungen tun.

Was machen die Mädchen? Was machen die Jungen?
Das fragt Nikolaus Heidelbach in seinen beiden Büchern, die bereits 1993 und 1999 in der ersten Auflage erschienen, danach lange Zeit nur im Miniformat vom Beltz Verlag herausgebracht wurden und in diesem Jahr als Neuauflage mit neuer Covergestaltung in den Regalen des Buchhandels zu finden sind. In den Büchern werden in jeweils 26 Szenen Mädchen und Jungen in unterschiedlichen Handlungen und Spielen präsentiert und inszeniert. Eingeführt jeweils mit einem Buchstaben, der gleichzeitig der Anfangsbuchstabe eines veraltet klingenden Mädchen- oder Jungennamens ist, beschreibt der Satz auf der linken Seite schlicht die Handlung, die das Kind vollzieht. Das Bild erfindet einen Raum, ein Arrangement mit anderen Kindern oder Figuren, eine Szene, die die Handlung verstärkt und die jeweilige Situation mit Komik, Groteske und Absurdität auflädt.
Das A zu Beginn des Mädchenbuchs führt Antraut ein, die ein Brot isst. Auf dem Bild sitzt Antraut an einem langen, mit einem weißen, edlen Tuch bedeckten Tisch und beißt in eine schnöde Wurststulle. Dabei sehen ihr, der Größe nach geordnet, sechs Gefährten mit lechzenden Lefzen zu: eine Art grün gefleckter Bernhardiner, eine Mischung aus Reh und Hase, ein Teddybär, ein Frosch, eine Kröte und eine blaue Spielfigur, die aus einem »Mensch-ärger-dich-nicht-Spiel« stammen könnte. Antraut packt das Brot mit starken, übergroßen Erwachsenenhänden und führt es zum weit geöffneten Mund, ohne ihre Tischnachbarn zu beachten.
Oder Dietlinde: Dietlinde will Karriere machen. Wie geht sie dabei vor? Sie steht, einen Kaffeewärmer auf dem Kopf und eine rote Decke wie eine Robe umgehängt, vor einem Schrank, betrachtet sich und deutet ein Peace-Zeichen an.
Ein Mädchen namens Yvonne liegt mit Axt, Beil, Steinschleuder, Schlachtermesser und anderen Mordwerkzeugen auf dem Boden vor einem Fernseher und wartet auf den Film.
Alle Szenen zeigen Mädchen, ihre vertrauten und gleichzeitig ungeahnten Seiten. Auffällig ist, dass die Szenen genauso von Jungen besetzt werden könnten. Unterstützt wird dieser Gedanke durch die Darstellung der Buchstaben, die in dem Mädchenbuch von Jungen und in dem Jungenbuch von Mädchen getragen werden.
Auch im Jungenbuch erwartet uns wieder Komisches, Groteskes, Absurdes und dabei immer auch Bekanntes. Aber bei der Klassifizierung in »typisch Junge« und »typisch Mädchen« bleibt es nicht.
Da ist zum Beispiel Charles, der ein Geschäft macht, einen Pakt dem Teufel schließt und dafür den Schnuller seines jüngeren Geschwisterchens hergibt. Oder Igor, der Hunger hat, und im Wohnzimmer oder Flur kurzerhand den Teppich zurückrollt, um ein Lagerfeuer zu machen und sich ein Steak zu grillen.
Könnte ein Mädchen nicht auch auf diese Idee kommen? Ist es nicht vorstellbar, dass ein Mädchen es einmal leid ist, auf das jüngere Geschwisterkind aufzupassen, und Lust verspürt, fies zu sein? Oder wie es ist, tot zu sein? Das übt Uwe, steckt sich auf dem Friedhof ein Grab ab und legt sich in das markierte Feld, als sei er tot. Auf so eine Idee könnte auch ein Mädchen kommen.
Von den Titeln irregeführt, könnte man meinen, Nikolaus Heidelbach registriert in seinen Bilderbüchern geschlechtsspezifische Verhaltensweisen. Er macht aber das Gegenteil: Er rückt seinen Blick von den Unterschiedlichkeiten der Geschlechter ab, eröffnet sich und den Betrachtern dadurch die Chance, Gemeinsamkeiten zwischen Jungen und Mädchen und vor allem ein breites Spektrum an individuellen Unterschiedlichkeiten zwischen Kindern wahrzunehmen oder »zwischen den Gender-Perspektiven zu gleiten«

Die Geschichte eines Jungen

Dass Kinder durchaus anders sein können, als ihre Mitwelt es von ihnen erwartet – gerade in Bezug auf erwartete tradierte geschlechtsspezifische Verhaltensweisen -, davon erzählt die Bilderbuchgeschichte »Jo im roten Kleid« von Jens Thiele. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Bilderbüchern steht hier nicht nur das Verhalten, sondern auch das innere emotionale Erleben eines Jungen im Mittelpunkt.
In Text und Bild erzählt Jens Thiele die Geschichte von Jo, der sich selbst entdeckt, dabei seine weiblichen Seiten aufspürt und sich damit auseinandersetzt. Die Geschichte ist eingebettet in ein Gespräch zwischen einem Erwachsenen und einem Jungen, vielleicht Vater und Sohn. Beide sitzen einander gegenüber -— dargestellt durch Scherenschnitte auf einer schwarzen Linie -, mal wie auf einer Mauer, mal wie auf einem Seil, der jeweiligen Dramaturgie entsprechend. Flächenhafte Collagen aus Scherenschnitten, Farbrissen, Skizzen, Stofffetzen, Fotografien und kunsthistorischen Zitaten, meist in Schwarz-Weiß und Grautönen, machen den größten Teil der Bilder aus, aus denen das Rot in unterschiedlichen Arrangements hervorsticht. Ein rotes Kleid steht im Mittelpunkt der Geschichte, das Jo in eine Prinzessin verwandeln
Und wenn dich einer dabei erwischen würde?
Keine Sorge, ich würde warten, bis alle aus dem Haus sind. Dann würde ich Prinzessin spielen oder Filmstar. Ja, ich würde mir einen Film ausdenken, in dem ich die Hauptrolle spiele. Mein Name wäre Jo. Und ich wäre sehr schön.
Und was sollte das für ein Film sein? Sicher so ein kitschiger Liebesfilm!
oder ihm zur Hauptrolle in einem Film verhelfen könnte.
Wie ein Film wird uns die Geschichte auf den folgenden Seiten präsentiert. Alles, was Jo passiert, wird von Scherenschnitt-Kopfreihen flaniert, wie an ein Publikum in Kino oder Theater gerichtet.
Es geht jedoch um mehr als Verkleidung, um mehr als Spiel und das Ausprobieren, einmal jemand anders zu sein. Das rote Kleid hilft Jo, sich zu spüren, sich seiner selbst gewahr zu werden und aus sich herauszugehen. Von Seite zu Seite verwandelt sich Jo im fiktiven Raum des Kinos oder Theaters vor den Zuschauern aus statischer, eher starrer Körperlichkeit in einen lebendigen, lustvollen, bewegten und selbstbewussten Menschen.
Dass dieser Prozess nicht reibungslos und ohne Widerstände der Umwelt vonstatten geht, wird schmerzhaft bewusst, als der Erwachsene erzählt, wie Jo im Film viele Gegner bekämpfen müsse, die etwas gegen rote Kleider haben. Auf der folgenden Seite ist zu sehen, wie ihm das rote Kleid brutal vom Leib gerissen wird.
Ohne rotes Kleid tritt Jo mit einem klassischen Jünglingstorso auf, der das Geschlecht unverhüllt zeigt. Am rechten Bildrand stürmen, fragmentarisch angedeutet, Jünglinge aus der Szene und verbildlichen Jos Aufbruch in eine neue Welt, in der er sich selbstbewusst und erneut in einem roten Kleid zeigt, »das noch viel schöner ist als das alte«. Jo zeigt sich nun auch außerhalb des Films oder seiner Fantasiewelt und tritt selbstbewusst, den Arm in die Hüfte gestemmt, auf die Straße, damit alle ihn sehen.
Am Schluss der Geschichte wird die Entwicklung Jos noch einmal über eine Reihe von Schattenbildern gezeigt, die in ihrer seriellen Form an frühe Film-und Kinobilder erinnern. Jos Kopf ist in diesen Scherenschnitten klar erkennbar. Körperhaltung und Bewegung verweisen auf die Tänzerinnen von Edgar Degas und nehmen von Bild zu Bild Anteile der Tänzerinnen auf. Mit diesen seriellen Bildern macht Thiele noch einmal deutlich, dass der Bewegungslust des Jungen Jo und seiner Lust an der eigenen Körperlichkeit ein Weg vorausging, auf dem er innere und äußere Widerstände überwinden musste, um sein Empfinden und Erleben nach außen zu zeigen und leben zu können. In diesem Sinne machen die Geschichte Jos und Thieles Bilderbuch Kindern und Erwachsenen Mut, sich keine geschlechtsspezifischen Rollenmuster überstülpen zu lassen, sondern ihren eigenen Weg mit Körper, Gefühlen und Fantasien zu suchen.

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Bilderbücher:
Blume, B./Gleich, J. Die kleine Piratin und die neuen 13. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2004
Heidelbach, N.: Was machen die Mädchen?  Beltz Verlag, Weinheim, Basel 1993
Heidelbach, N.: Was machen die Jungen? Beltz Verlag, Weinheim, Basel 1999
Olten, M.: Echte Kerle.  Bajazzo, Zürich 2004
Thiele, J.: Jo im roten Kleid. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2004

Literatur:
Prengel, A: Zwischen Gender-Gesichtspunkten gleiten — Perspektivitätstheoretische Beiträge.
In: Glaser, E./Klika, D./Prengel, A. (Hrsg.): Handbuch Gender und Erziehungswissenschaft. Verlag Julius Klinkhardt, Heilbronn 2004, S. 90-102
Winterhager-Schmid, L.: Geschlecht als psychische Realität — Psychoanalytische Beiträge. In: Glaser, E./Klika, D./Prengel, A. (Hrsg.): Handbuch Gender und Erziehungswissenschaft. Verlag Julius Klinkhardt, Heilbronn 2004, S. 127-146