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Kindsein

Zugänge zum Denken, Handeln und Fühlen von Kindern

Text: Kirsten Winderlich

Es ist unumstritten, dass die Weichen für das Leben in der frühen Kindheit gestellt werden. Die Art und Weise, wie Kinder in den ersten Jahren aufwachsen, wie sich die Beziehungen zwischen ihnen, ihren Eltern und Begleitern gestalten, trägt maßgeblich dazu bei, dass sich die kleinen Menschen zu selbstbewussten und starken Kindern entwickeln, die in der Lage sind, sich die Welt zu erschließen.
Was aber bedeutet Kindsein in der frühen Zeit?
In jüngster Zeit fallen zunehmend Bilderbücher auf, die Erwachsenen Zugänge zum Kindsein vermitteln, weil sie vom Spiel kleiner Kinder genauso erzählen wie von ihrer besonderen Verletzbarkeit und ihrem Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit.

Verletzbarkeit
Wie verletzbar kleine Kinder sind, vermittelt das Bilderbuch »Schreimutter« von Jutta Bauer. Eine Pinguinmutter schreit ihr Kind derart an, dass es daran zerbricht. Wir erfahren diese sich körperlich und seelisch direkt auswirkende verbale Gewalt und ihr Ausmaß aus der Perspektive des Kindes. Die Bilder zeigen, wie die einzelnen Körperteile auseinanderfliegen und sich auf der ganzen Welt verteilen. Der Kopf schwirrt im Weltall umher, der Körper des kleinen Pinguins stürzt ins Meer. Wir wissen, was das bedeutet.
Er wird versinken, unauffindbar irgendwo auf dem Meeresgrund liegen. Ein Schreckensszenario.
Die Flügel verirrten sich im Dschungel, erzählt der kleine Pinguin. Wir sehen bereits einen Tiger zu ihnen aufblicken. Und selbst wenn sich die Raubtiere nicht an ihnen vergreifen — wie sollen die Flügel aus dem dichten Dschungel finden?
Der Schnabel landet in den Bergen, weit von den übrigen Körperteilen entfernt. Auf einem Gipfel sticht er wie ein Stachel empor. Das Hinterteil des Pinguins liegt in der Stadt, mitten auf der Fahrbahn, und das nächste Auto wird es wahrscheinlich platt fahren. Die Füße des kleinen Pinguins rennen weg, so schlimm ist das Schreien.
Die Füße zeigen den eigentlichen Konflikt, in dem sich der Pinguin befindet. Er müsste seine Mutter verlassen und weit fortgehen. Aber er ist noch klein und abhängig. Schreien möchte er, aber das kann er nicht. Sein Schnabel ist ja in den Bergen. Und zusammensetzen kann er sich auch nicht mehr. Seine Augen sind ja im Weltall.
Die Schreimutter kann es allerdings. Sie zerstört und flickt und entschuldigt sich. Aber ein Wort der Entschuldigung reicht nicht aus. Das macht der kleine Pinguin deutlich. Wie benebelt lehnt er an seiner Mutter, nicht vertrauensvoll angeschmiegt, sondern wie gelähmt und seinem Schicksal ergeben. Es wird nie mehr so sein wie früher, denn jedes Kind weiß: Verletzungen hinterlassen Spuren und genähte Wunden Narben.

Das Warten
Die Abhängigkeit vom Erwachsenen zeigt sich auch in dem Bilderbuch »Wann kommt Mama?«, dessen Text von Lee Tae-Jun zum ersten Mal 1938 in einer koreanischen Zeitung erschien. Ein Kind wartet auf seine Mutter – ein Mythos fast, der für das 2007 in der Baobab-Reihe des Nord Süd Verlags erschienene Buch von dem Koreaner Kim Dong Seong illustriert wurde. Dass sich der Künstler in seinen Bildern an die Zeit der 194oer Jahre in Korea anlehnt, täuscht nicht über die hohe Aktualität der Geschichte hinweg, sondern unterstreicht die anthropologische Bedeutung der Geschichte für das Fühlen kleiner Kinder, deren Bezugspersonen abwesend sind.
Das Bilderbuch erzählt in deutscher und koreanischer Sprache, wie ein kleines Kind an einer Straßenbahnhaltestelle steht und auf seine Mutter wartet. Die Zeit muss ihm wie eine Ewigkeit vorkommen. Eine Straßenbahn nach der anderen hält an der Station. Immer wieder fragt das Kind nach seiner Mutter. Immer wieder wird es abgewiesen. »Ich kenne deine Mama nicht!« Mit diesen oder ähnlichen Worten antworten die Schaffner auf die Frage des Kindes, läuten zur Abfahrt und fahren davon.
Auch die Mitwartenden kümmern sich nicht um das Kind. Auf den zarten, mit Tusche und Kreide gezeichneten Bildern sehen wir viele Menschen, aber bis auf das einsam wartende Kind und ein Baby im Tragetuch seiner Mutter erscheint kein anderes Kind. Alle Erwachsenen sind beschäftigt, manche sind schwer beladen und haben es eilig. Keiner hat einen Blick oder ein Wort für das kleine Kind übrig. Keiner wundert sich, weshalb es allein an der Straßenbahnhaltestelle steht. Welche Verzweiflung muss das Kind erleben!
Zu Beginn zeichnet das kleine Kind noch selbstvergessen mit einem Stock im Sand, hängt sich an die Straßenlaterne und erprobt die schräge Lage. Irgendwann hockt es am Boden, wahrscheinlich um sich auszuruhen. Diesen Bildern sind farbige Malereien an die Seite gestellt, die einen Straßenbahnwaggon wie in einem Traum zeigen, begleitet von in die Stadt ziehenden Vogelschwärmen. Sie wirken wie Bilder der Sehnsucht des Kindes.
Nachdem die Straßenbahn etliche Male wieder angefahren ist, ohne dass die Mutter des Kindes ausstieg, steht es einfach nur noch da, stumm, resigniert, mit roter Nase und kalten Händen. Nur ein Mal spricht ein Fahrer das Kind an und rät ihm, hier zu warten, bis die Mutter kommt.
Es beginnt zu dämmern. Das Kind steht da, starr wie das Haltestellen-schild der Straßenbahn. Es ist verstummt. »Der Wind bläst kalt, und auch wenn eine Straßenbahn kommt, fragt das Kind nicht mehr, es steht nur da und wartet, mit seiner purpurroten Nase.« Dann fängt es auch noch zu schneien an. Die Flocken werden immer dichter und füllen die Bilddoppelseite fast aus. Den Kopf in den Nacken gestreckt, an den unteren Bildrand gedrängt, nimmt das Kind den Schnee aus der Froschperspektive wahr.
Die Lage spitzt sich zu. Auf der folgenden Seite sehen wir das dichte Schneetreiben quasi durch die Augen des verzweifelten Kindes, dessen Blick
mittlerweile tränenverschleiert ist. Keine Mutter ist in Sicht!
Auch auf der letzten Seite taucht sie scheinbar nicht auf. Wir blicken auf die Dächer der Stadt. Sie sind mit Schnee bedeckt. Plötzlich durchfährt uns ein Schreck! Was ist mit dem Kind? Steht es immer noch an der Haltestelle im Schnee. Kommt seine Mutter überhaupt jemals wieder?
Beim genauen Betrachten des Bildes sehen wir, dass der Schrein trügt. Die Mutter ist da. Sie ist gekommen, zwar sehr spät, aber sie ist da und geht jetzt Hand in Hand mit ihrem Kind durch die Straßen — nach Hause?

Der Luftballon
»So schön wie der Mond« – die Geschichte der Japanerin Komako Sakai handelt von der Bedeutung der Nähe zwischen Mutter und Kind. Ein kleines Mädchen, Akiko, geht mit seiner Mutter einkaufen und bekommt von einem Verkäufer einen gelben Luftballon geschenkt. Damit der Ballon nicht fortfliegt, hat ihn der Verkäufer an Akikos Finger festgebunden.
Zu Hause angekommen, knotet die Mutter die Ballonschnur auf. Der Ballon fliegt sofort an die Zimmerdecke. Die Mutter holt ihn zurück und gibt ihn Akiko, doch er entgleitet dem Mädchen. Da hat die Mutter eine Idee. Sie bindet einen Löffel an die Schnur. Nun schwebt der Ballon direkt vor Akiko. »Er ist jetzt genauso groß wie Akiko« und wird zu ihrem Spielgefährten. »Komm, wir gehen zusammen in den Garten«, sagt Akiko zu dem neuen Freund. Sie bindet für sich und den Luftballon ein Blumenkränzchen und spielt Kaffeetrinken.
Doch plötzlich kommt ein Windstoß und fegt den Luftballon fort. Hoch oben in einem Baumwipfel bleibt er hängen. Akikos Mutter kann ihn nicht herunterholen. Sie ist nicht groß genug. Außerdem dämmert es, und die Mutter möchte mit Akiko ins Haus gehen.
Akiko ist traurig. »Vor lauter Kummer kann sie nichts essen.« Sie hatte sich vorgestellt, mit dem Ballon gemeinsam zu essen, gemeinsam die Zähne zu putzen, gemeinsam den Schlafanzug anzuziehen und dann gemeinsam einzuschlafen.
Die Mutter verspricht Akiko, am kommenden Morgen eine Leiter auszuleihen und den Ballon vom Baum zu holen.
»Ganz bestimmt, Mama?« fragt Akiko. Die Mutter beteuert: »Ja, ganz bestimmt.« Aber Akiko muss sich noch einmal vergewissern: »Ganz, ganz bestimmt?« »Ja, ganz, ganz, ganz bestimmt«, sichert die Mutter zu.
Im Bett muss Akiko nicht mehr weinen. Trotzdem denkt sie immer wieder an ihren Luftballon, »krabbelt zum Fenster und schaut hinaus«. Da sieht sie ihren Ballon hoch oben im Baum. Er leuchtet schön wie der Mond, und Akiko kann endlich einschlafen.
Die Geschichte von Akiko und ihrem Luftballon eröffnet uns nicht nur Zugänge zur Sensibilität kleiner Kinder, sondern erzählt auch vom Einfühlungsvermögen Erwachsener und den unterschiedlichen Formen, die es annehmen kann. Die zart kolorierten Kreidezeichnungen bringen die Nähe zwischen Mutter und Tochter zum Ausdruck. Sie zeigen Szenen der Geborgenheit, in der sich Akiko trotz des Verlusts aufgehoben fühlen kann. Der gelbe Luftballon taucht auf jeder Seite als einziger Farbmoment auf und unterstreicht so die Bedeutung, die er für das Handeln Akikos hat, denn er ist in ihrer Fantasie ein wichtiger Gefährte, nicht nur im Spiel, sondern auch im Übergang zur Nacht.
All dies spürt die Mutter. Auf den Bildern fällt ihre der Tochter zugewandte Haltung auf — die Hände, die Kontakt suchen, helfen, halten und trösten. Obwohl Akiko traurig ist, dass ihr Ballon wegflog, vertraut sie der Mutter. Sie wird ihr morgen helfen und den Ballon zurückholen. Akiko kann einschlafen. Der Luftballon ist nicht mehr notwendig, um Ruhe zu finden. Es reicht Akiko, sich vorzustellen, den Ballon im Arm zu halten.

Vom Spiel zur Welt
Vom frühen Spielen handelt auch das Buch »Welle«, illustriert von der Koreanerin Suzy Lee. Ohne Text, nur mit ihren Bildern erzählt Suzy Lee von einem kleinen Mädchen, das am Strand das Meer und die Wellen entdeckt, erst den Wellengang beobachtet und sich dann Schritt für Schritt ins Wasser traut. Immer ausgelassener spielt, springt und spritzt das Mädchen im flachen Wasser.
Den Prozess des spielenden Erkundens dieser neuen Welt des Meeres vermittelt Suzy Lee durch ihre besondere Illustrationsweise. Zu Beginn der Geschichte sind die Strandbilder als Kohlezeichnungen dem Meer in blauen Acrylfarben gegenübergestellt. In dem Moment, in dem das Mädchen sich ins Wasser wagt, verknüpft Lee die beiden Illustrationsstile, die Kohlezeichnung und die Malerei.
Begleitet wird das Mädchen bei seinem versunkenen Spiel und seiner mutigen Exploration von einer Möwenschar. Die Formationen der Möwen, ihre Lage im Raum und in Relation zum Mädchen, nehmen die Handlungen des Mädchens vorweg, als wollten sie ihm Mut machen. So nehmen die Möwen nehmen in der Geschichte die Rolle der vorbildhaften Begleiter ein, wagen sich gemeinsam mit dem Mädchen in das Meer vor, ohne es zu drängen. Sie sind einfach dabei. Auch das fröhliche, ausgelassene Springen und Tanzen im flachen Wasser wird nicht mit Sorge oder Tadel kommentiert, sondern mit Freude, Lust und Lebendigkeit, die das Mädchen in ihrem Tun bestätigen und ihm Sicherheit geben.
Dann kommt plötzlich eine beeindruckend große Welle, vor der auch die Möwen Respekt haben, und baut sich vor dem Mädchen auf. Das Mädchen läuft davon. Fast gezogen von den Möwen, ist es schnell, entwischt der großen Welle und streckt dem Meer die Zunge heraus.
Doch dann schlägt die Welle um. Auf der nächsten Seite sehen wir kein Mädchen, keine Möwen, sondern nur noch Wasser. Beim erneuten Umblättern entdecken wir das Kind zum Glück, triefend und verdattert am Strand sitzend. Das Wellenwasser fließt zurück ins Meer, und das Mädchen entdeckt im ablaufenden Wasser eine Menge angespülter Muscheln, Schnecken und Seesterne. Jubelnd dreht es sich um, begleitet vom aufmunternden Kreischen der Möwen. Wohin dreht es sich wohl?
Zur Mutter, die das Spiel der Tochter beobachtet hat. Wie zum Abschied legt das Mädchen die Hände noch einmal auf das Wasser. Auch die Möwen scheinen zum Weiterflug bereit. Noch einmal dem Meer zuwinkend, geht das Mädchen mit der Mutter fort.

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Bilderbücher:
Bauer, J.: Schreimutter. Beltz und Gelberg, Weinheim/Basel 2000
Lee, S.: Welle. Baumhaus Verlag, Frankfurt/M. 2008
Sakai, K.: So schön wie der Mond. Moritz Verlag, Frankfurt/M. 2005
Tae-Jun,L. / Dong-Seong, K. (Ill.): Wann kommt Mama? Nord Süd Verlag (Reihe Baobab), Zürich 2007