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Han Gan und das Wunderpferd

Text: Kirsten Winderlich

Wer vermag das Gemeinsame zwischen den Kulturen besser zu beschreiben, als diejenigen, die sich zwischen den Kulturen bewegen? Chen Jianghong wuchs in China auf und studierte Kunst in Tinajin und Beijing. Seit 1987 lebte er als freischaffender Künstler in Paris und hat seinen Arbeits- und Lebensmittelpunkt seit einigen Jahren in Berlin. Die Erfahrung unterschiedlicher Kulturen macht sich in seinen Bilderbuchillustrationen bemerkbar, für die er meist traditionelle Tuschtechniken verwendet, sie aber häufig mit zeitgenössischen künstlerischen Arbeitsweisen verknüpft. Bemerkenswert an seinen Bilderbüchern ist, dass seine Geschichten ihren Ausgangspunkt häufig in alten Kunstwerken finden. So auch in der Geschichte „Han Gan und das Wunderpferd“. Chen Jianghong geht von einem Meisterwerk des Malers Han Gan aus, der vor mehr als 1.200 Jahren in China lebte und für seine Pferdedarstellungen berühmt war. Das Werk „Pferde und Reitknechte“ in Tusche und Farbe auf Seide ist im Museum Cernuschi in Paris zu sehen. An dieses Gemälde anknüpfend, erzählt Chen Jianghong eine ganz eigene Geschichte Han Gans und malt diese wie der Altmeister auf Seide. Chen Jianghong beschreibt Han Gan in seinem Bilderbuch als Künstler, der schon als Kind am liebsten zeichnete. Pferde faszinierten ihn. Nicht müde werdend, stellte er sie immer wieder in ihrer Lebendigkeit und Schönheit dar. Eines Tages erkannte ein Meister sein Talent und ermöglichte ihm, seine Pferdestudien und Malereien weiterzuentwickeln. Auf seine Begabung aufmerksam geworden, machte der Kaiser ihn zum Mitglied seiner Hofgilde. Auch hier widmete er sich, gegen die Tradition, der Darstellung von Pferden. Man begann Geschichten über seine Leidenschaft zu erzählen. So auch diese, dass Han Gan seine Pferde mit einem Zauberpinsel zu Leben erwecken könne. Ein Krieger erfuhr von dieser Fähigkeit Han Gans, suchte ihn heimlich auf und bat um die Zeichnung des stärksten Schlachtrosses. Han Gan, unzufrieden mit seinen Versuchen, das stärkste Pferd zu zeichnen, warf schließlich sein letztes Bild frustriert ins Feuer. „Kaum hatte er das Blatt in die Flammen geworfen, sprang ein prächtiges Schlachtross daraus hervor.“ Der Krieger galoppierte mit dem Pferd davon und errang mit ihm einen Sieg nach dem anderen. Doch er fand keine Ruhe, wollte immer weiter kämpfen und bemerkte nicht, dass sein Pferd, das aus der Feder Han Gans stammte, den Anblick des Krieges nicht mehr ertragen konnte. Schließlich warf das Tier den Krieger ab und trabte davon. Lange suchte der Krieger nach ihm. Das Pferd war tatsächlich zu Han Gan zurückgekehrt, und zwar in eins seiner Bilder. Genaue Betrachter werden bemerken, dass es sich bei dem Bild Han Gans in der Bilderbuchgeschichte um die Spiegelung des alten, im Pariser Cernuschi Museum ausgestellten Gemäldes handelt. Chen Jianhong lässt das zurückgekehrte Pferd die vier Pferde des Originals anführen. Der Bilderbuchkünstler nähert sich der Kultur und Kunst Chinas, indem er ein Gemälde aus alter Zeit animiert, Geschichte lebendig werden lässt und sie in Geschichten weitererzählt. Die Verwendung von Seide als Hintergrund für die Bilder dient wie das Thema der Wunderpferde der Einfühlung in das auf der letzten Seite abgebildete historische Gemälde Han Gans. Chen Jianghong nähert sich durch diese Materialentscheidung dem Meisterwerk nicht nur auf mimetische Weise. Sie drückt Wertschätzung für das Kunstwerk aus, belebt es quasi wieder. Die meisten Werke Han Gans sind nämlich nicht erhalten geblieben, weil Seide mit der Zeit zerfällt. Die Auseinandersetzung mit der chinesischen Kunstgeschichte ermöglicht dem Künstler die Annäherung an die eigene Geschichte und Kultur, an die Herkunft als Mensch und Künstler. Auch uns eröffnet das Bilderbuch „Han Gan und das Wunderpferd“ nicht nur Zugänge zur Kultur und Kunstgeschichte Chinas, sondern ebenso zum Prozess der Selbstvergewisserung eines Künstlers, der seinen Wurzeln nachspürt. Kann doch das Bekannte und Vertraute der eigenen Herkunft und alten Heimat mit der Zeit durch räumliche Entfernung immer auch zum Fremden werden.

Chen Jianghong
Han Gan und das Wunderpferd
Aus dem Französischen von Erika Klewer und Karl A. Klewer
Moritz Verlag, Frankfurt a./M. 2014, 6. Aufl.
40 Seiten, durchgehend farbig illustriert
Hardcover, 15.1 x 0.6 x 19.1 cm
ISBN: 978-3-895-65155-7