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Bilderbuchinszenierungen

Ein Konzept zur ästhetisch-künstlerischen Sprachbildung in Willkommensklassen

Text: Kirsten Winderlich

Wie können neu zugewanderte Kinder im schulpflichtigen Alter sprachlich gefördert und unterstützt werden, die deutsche Sprache zu erlernen? Auf welche Weise sind Zeitgenössische Bilderbücher besonders geeignet, diese Bildungsprozesse zu initiieren und zu unterstützen?

Mit diesen Fragen haben wir uns in der grund_schule der künste der UdK Berlin, einem Bildungsraum an der Schnittstelle von Hochschule, Schule und Kulturinstitution, auseinandergesetzt und unsere Bilderbuchwerkstatt für Willkommensklassen geöffnet. Im Rahmen des von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft geförderten Projektes „Willkommensraum 01“ entstand dabei vorliegendes Konzept für die ästhetisch-künstlerische Sprachbildung, dessen Rahmen folgende Grundannahmen bilden:
Zeitgenössische Bilderbücher sind künstlerische Bilderbücher, die entweder ausschließlich über Bilder erzählen oder sich durch vielfältige Bild-Text-Wechselbeziehungen auszeichnen. Im zweiten Fall wird das traditionelle Verständnis, dass die Bilder ausschließlich den Text unterstützen und sich damit den Bildern unterordnen, irritiert und in Frage gestellt. Vielmehr erzählen die ausgewählten Bilderbücher in ihren je eigenen Sprachen und regen über ihren ästhetischen Aufforderungscharakter an, ins Sprechen, Assoziieren, Erzählen und Philosophieren zu kommen. Der ästhetische Aufforderungscharakter der ausgewählten Bilderbücher macht das Handeln, Erleben und Vorstellen im Alltag wie in der Fantasie der Kinder gleichermaßen produktiv. Lebensbedeutsame Themen für die Kinder wie Flucht und Trauma stehen dabei nicht plakativ im Vordergrund: Sie können in der vielschichtigen Ästhetik der einzelnen Bilderbücher selbst entdeckt und selbst bestimmt aufgegriffen werden. Vor diesem Hintergrund liegt dem vorliegenden Konzept ein Bildungsverständnis zugrunde, das Lernen als erfahrungsbezogen, ästhetisch grundiert, dialogisch und sinnhaft begreift.

Die Idee ist nun, die Bilderbücher und ihren jeweiligen ästhetischen Aufforderungscharakter über einen Dialog der Künste zu inszenieren und damit die Bücher und Geschichten für Kinder vielsinnlich erfahrbar zu machen. Die Inszenierungen knüpfen dabei an die jeweilige Ästhetik der Bilderbücher an und initiieren einen sprachlichen Erfahrungszuwachs über den performativen Umgang mit Bilderbüchern durch intermedial-künstlerisches Erzählen.

In der konkreten Umsetzung des Konzeptes in der grund_schule der künste wurde die Inszenierung von Bilderbüchern durch Künstlerisches Erzählen und Live-Vertonung über ein Tandem bestehend aus einer Erzählerin und einem Musiker erprobt. Die Bilderbuchwerkstatt verwandelte sich von einer Bibliothek in ein Theater. Dabei ist das Theater in diesem Zusammenhang nicht nur als Ort der Inszenierung und Aufführung zu verstehen, in dem Kinder als Zuschauer und Zuhörer durch ihre Rezeption lernen, sondern als ästhetisch-künstlerischer Bildungsraum, in dem die Kinder die Bilderbücher und Geschichten erfahren. Neben Stimme, Geste, Bild, Bewegung und Klang, dem Part des Künstlerischen Erzählens sowie dem der Live-Vertonung, wird der Raum zum Mitspieler in der Inszenierung und Bildungspraxis. So weist die räumliche Gestaltung der Bilderbuchwerkstatt eine Streuung von Orten mit einer ausgezeichneten Stelle in der Mitte des Raumes aus, an der sich die Kinder versammeln können. Die einzelnen Orte, die gleichmäßig über den Raum verteilt sind, ermöglichen die Bücher in Ruhe und für sich zu betrachten und zu lesen. Neben dieser Möglichkeit von Kontemplation und Konzentration regt der Raum, dessen Boden als bewegte Topographie gestaltet wurde, zu Bewegung an. Die Gestaltung der Fenster und Glaswände mit Hilfe keramischen Siebdrucks sowie der Einsatz von Licht erzeugen eine Atmosphäre, die die Bilderbuchwerkstatt deutlich vom Außenraum „Hochschule“ wie auch „Stadt“ abgrenzt und dabei äußere bzw. die Zugänge zum Buch hemmende Reize minimiert.

Ausgehend von ihrer jeweiligen Ästhetik werden die Bilderbücher und Geschichten nicht vorgelesen, sondern auf eigensinnige Weise erzählt, im Dialog zwischen Erzählerin und Musiker und dem Mitspieler Raum zum Erscheinen gebracht. Spuren aus den Bilderbüchern und Geschichten werden in den Raum transferiert, über das Spiel mit akustischen Mitteln und Klang auditiv wahrnehmbar gemacht sowie durch den performativen Umgang mit Objekten im Erzählen erfahrbar. Voraussetzung für diese Transformationspraxis ist, dass das die Bilderbücher inszenierende Tandem im Vorfeld in die spezifische Ästhetik der einzelnen Bilderbücher eintaucht, sie gewissermaßen zwischen Bild und Text „lesen lernt“. Dieser Prozess ist dabei nicht nur Voraussetzung für die Inszenierungspraxis, sondern eine am eigenen Leib erfahrene ästhetisch-künstlerische Sprachförderung, die Erzählerin und Musiker, die „Lehrenden“ in diesem Konzept, einer immer wieder fremden und neuen Sprache aussetzt. Und entsprechend sind Erzähler_in und Musiker ähnlich wie zugewanderte Kinder herausgefordert, sich mit dem unausweichlich Anderen auseinanderzusetzen.

Im Dialog der Künste
Ein Gespräch zwischen Stella Konstantinou und Conrad Rodenberg

Stella Konstantinou (nachfolgend SK): Ich messe dem Begriff Grenzen in diesem Projekt eine besondere Rolle bei. Kinder in Willkommensklassen befinden sich in einem Übergangs- und Vorbereitungsprozess. Sie werden in eine solche Klasse aufgenommen, damit sie auf die Teilnahme an einer regulären Klasse vorbereitet werden. Da besteht ein Spannungsfeld zwischen Separation und Vorbereitung auf die Teilhabe, was viele Fragen aufwirft. Die Kinder haben Ländergrenzen überquert, sie sind migriert oder geflüchtet und sind nun – um nur einen der vielen Aspekte zu benennen – mit Sprachgrenzen konfrontiert. Nun sind wir den Kindern innerhalb eines begrenzten Zeitraums begegnet, in einem besonderen Raum, der Grenzen auf den Kopf stellt, in einem Praxisfeld, in dem sich die Grenzen zwischen künstlerischer und pädagogischer Arbeit vermischen.
Grenzen verhandeln, ausweiten, irritieren, verflüssigen, austricksen, auflösen. Diese Prozesse erhielten für uns innerhalb des Projekts zentrale Bedeutung. Wie gehe ich zum Beispiel als Performerin und Theaterpädagogin mit Sprach- und Zeitgrenzen um? Inwieweit lebt performatives Erzählen als künstlerische Form von der Auflösung einer Art Bühnengrenze? Und wie können sich Grenzen in diesem künstlerisch/pädagogischen Kontext durch performative Handlungen ausweiten, oder gar verflüssigen, um mit den Kindern in Kontakt zu treten und miteinander zu spielen?

Conrad Rodenberg (nachfolgend CR): Beim Stichwort Grenzen denke ich zu allererst an die Trennlinie, mit der wir versucht haben, einen Bühnen- und einen Zuschauerraum zu etablieren. In dem spezifischen Raum, in dem wir gearbeitet haben, ist es nicht leicht, eine Bühnensituation herzustellen. Holzklötze, Kronkorken, Laub, Mützen und Treibholz kamen als Material für die Linie zum Einsatz – alles Dinge, die aus den Bilderbüchern stammten und neben dem Zweck der ‚Raumteilung‘ auch als Materialimpuls gedacht waren. Die Kronkorken, die der Protagonist in „Die Fundsache“ aufsammelt, haben wir zum Beispiel genutzt, um einen Einstieg in die Erzählung und in das Thema Sammeln zu geben, Details der einzelnen Kronkorken zur Sprache zu bringen und die Kinder nach Dingen zu fragen, die sie selbst sammeln. In wie fern haben die Materialien das Erzählen und das Finden einer gemeinsamen Sprache unterstützt?

SK: Das Material war eine große Hilfe, um Brücken über die Sprachbarrieren zu bauen. Ähnlich wie die musikalischen, vertonenden Elemente, wie auch die Stimme, die Bewegung, die Gestik, die Mimik, haben uns die Materialien auch unterstützt, Atmosphären, Landschaften, Figuren und Handlungen der Geschichte jenseits von lexikalischen Lücken greifbar zu machen. So hat Kathleen für die Performance zu „Morkels Alphabet“ von Stian Hole Treibholz für den Wald mitgebracht und die Idee entwickelt, damit während des Erzählens Wörter zu formen. Das hat mich darauf gebracht, mit dem ganzen Körper Buchstaben zu formen und auf diese Art den Namen einer Hauptfigur einzuführen. So haben die Kinder aufgeregt die Wortbotschaften beim Entstehen entschlüsselt und selber Wörter und Namen mit dem Holz oder dem Körper geformt.

CR: Es entstanden immer wieder Situationen, in denen die Kinder mit den Materialien der Trennlinien spielten. Bei „Rotkäppchen“ bestand die Linie aus Laubblättern. Ganz nah bei mir fingen Kinder an, mit dem Laub zu rascheln, an Stellen, an denen auch ich gerade dabei war, den Wald hörbar zu machen. Ich empfand das deutlich als ein Mit-Erzählen der Geschichte durch Spiel und Klang. Einige Kinder waren sehr fasziniert von den Geräten und Instrumenten, die ich vor mir hatte. Mit dem Laub und den anderen Materialien spielerisch-geräuschhaft an der Welt der Erzählung teilzuhaben war ein Weg, sich mitzuteilen und in meine Vertonung mit einzustimmen.
Die Trennlinie sollte uns Raum geben und das künstlerische Erzählen und Performen ermöglichen. Das Tolle war, dass durch das Umnutzen der Materialien, durch das spielerisch-intuitive Aufheben dieser vermeintlichen Grenze ganz neue Räume und Möglichkeiten für die Kinder entstanden, an der Performance teilzuhaben.



SK: Mir wird immer klarer, wie sehr das Erzählen durch das Aufheben der Grenze zwischen Zuschauer und Performer lebt und dadurch stärker werden kann. Diese Interaktionsform hast du mal als Verstärkungselement beschrieben. Ich nehme etwas wahr, stelle eine Frage, oder die Kinder werfen eine Idee ein und ich nehme sie an, verstärke sie und gebe sie zurück. Die Herausforderung ist dabei, im Feld der Geschichte zu bleiben. Auch finde ich sehr interessant, dass diese Art von Performance außerhalb der Schule den Kindern viel Freiheit lässt. Einmal haben zwei Kinder gesagt „Nee, keine Geschichte heute.“ und sind vergnügt auf die Bücherregale geklettert. Als wir anfingen, hörten die beiden von oben zu; ich habe sie bewusst mit meinem Blick einbezogen. Während der Performance kamen sie immer näher und waren dann Teil des aktiveren Publikums. Und dies ohne Zwang. Das war für mich ein sehr wichtiger Moment, zu merken, dass sich meine eigenen Vorstellungen davon, was ich von den Kindern erwarte, verändern können. Und das inspiriert mich, um neu mit mir selber, mit Lehrenden oder Theatermacherinnen darüber zu verhandeln und zu entdecken, was möglich ist. Den Kindern die Entscheidung zu lassen, teilzunehmen oder nicht und über Raum- und Materialarrangements dafür zu sorgen, dass dies aufgefangen werden kann, das ist ein spannender Versuch.


CR: Was die Entstehung der Performances angeht haben wir bei der Auswahl der Bilderbücher darauf geachtet, ob sie uns für unsere Art von performativer Umsetzung anregen. Es gab einen inszenierten Rahmen, der aber immer eine Offenheit für Spontanes, Unerwartetes behielt aber auch fragil war. Ich hatte teilweise schon damit zu kämpfen, dass das Klopfen aufs Mikrophon und auf Klangstäbe, das Drehen an Knöpfen und Reglern für die Kinder, verständlicherweise, so anziehend war. Meine Instrumente und Geräte lagen eben vor mir auf dem Boden. Das machte das Ganze auf eine Art angreifbar.

SK: Und andererseits konnten wir uns durch das Zusammenspiel von Vertonung und Erzählen gegenseitig stärken und auf diese Art auch die Partizipation der Kinder an der Performance besser ermöglichen. Zu den Motiven, die du zu den Bilderbüchern entwickelt hast, habe ich mich mit Stimme und Bewegung verhalten. Es entstanden musikalisch-erzählerische Flächen, auf denen ich mich bewegen konnte oder direkte Dialoge. Zum Beispiel als du dem rätselhaften „Ding“ aus Shaun Tans „Fundsache“ eine Stimme gegeben hast, konnte ich direkt als der Junge im Buch mit dem Sound interagieren. So waren Musik und Klang für mich kein abstrakter Hintergrund, sondern ganz konkrete Spielpartner, mit denen ich durch meine Handlungen in Kontakt bleibe. Wir waren beide Erzähler, die versuchen mit unseren jeweiligen künstlerischen Mitteln aufmerksam aufeinander und auf die Kinder zu reagieren.

CR: Für die Live-Vertonung war es mir wichtig, ein musikalisches Grundgerüst zu haben, das die Stimmung und das Tempo der Bücher wiedergeben konnte. „Morkels Alphabet“ zum Beispiel ließ sich eigentlich nur über die leicht traurige und doch optimistische Stimmung erzählen, während für das Märchen „Das Herz des Affen“ das klangliche Illustrieren der Orte und auftretenden Figuren entscheidender war.

SK: Für den Einstieg war das Wichtigste, die Perspektive aus der erzählt wird und den Erzählgestus zu finden, wie auch die Tempowechsel zu entdecken, die die Geschichte wachhalten können. Ich war auch von den Bildern der Bücher inspiriert und habe deren Wirkung nachgespürt. So bekam „Das Herz des Affen“ etwas Komikhaftes auf der erzählerischen Ebene und in der „Fundsache“ kamen Hip-Hop Elemente vor. So kann auch die Performance zu einem möglichst eigenständigen Werk unabhängig vom Bilderbuch werden. Einem Stoff mit Aufmerksamkeit und Neugierde zu begegnen, auch wenn nicht Wort für Wort alles verstanden wird, ist ansteckend, meiner Erfahrung nach.

CR: Wir behielten uns immer viel Raum für Improvisationen, denn auf die Aktionen und Reaktionen der Kinder eingehen zu können war enorm wichtig, da wir immer wieder Möglichkeiten hatten, Dinge zu übersetzen, wo die lexikalische Bedeutung von Worten nicht vorhanden war. Im Zusammenspiel war es auf diese Weise performativ, über Gestik, Mimik, Spiel, Stimme, Musik und Sound neue Sprache entstehen zu lassen, wo Wortschatzbausteine bei den Kindern fehlten.

SK: Ja, und diese Improvisation als Möglichkeit, Grenzen gemeinsam zu verrücken war auch in der Zeit vor- und nach der Performance wichtig. Wir hatten mit den Kindern Zeit, den Raum zu erfahren, uns Bücher anzuschauen oder einfach die Kinder in ihrem Spiel zu beobachten. Wir haben mit den Kindern Verstecken gespielt oder Papierflieger hin und her fliegen lassen. Das Besondere daran ist für mich das Eingehen auf die Impulse der Kinder, was Beziehung jenseits von Sprachbarrieren möglich macht.

Fotos: Mathias Söhn